Seattle. . In der US-Stadt Seattle hat der erste kassenlose Lebensmittel-Laden eröffnet. Volontärin Friederike Noske war dort einkaufen.

So muss sich wohl ein Ladendieb fühlen. Misstrauisch schaue ich mich um. Niemand beobachtet mich, niemand hält mich auf. Ich nehme die Tafel Schokolade und die Flasche Eistee und gehe einfach aus dem Laden raus – ohne an einer Kasse dafür zu bezahlen.

Ich stehe mitten im Zentrum von Seattle im US-Bundesstaat Washington. Hier in der Geburtsstadt des Online-Versandhandels Amazons hat der weltweit erste Amazon-Go-Store eröffnet: ein Supermarkt ohne Kassen. In meinem Urlaub hat es mich in die dreieinhalb Millionen Einwohner-Stadt im Nordwesten Amerikas verschlagen, und ich will den bargeld- und kassenlosen Supermarkt einmal testen. Und so viel sei vorweg verraten: Bezahlen musste ich die Schokolade und den Eistee natürlich trotzdem.

Um den Store betreten zu können, brauche ich eine App auf meinem Smartphone und ein Online-Konto bei Amazon. Über die App bekomme ich einen QR-Code auf dem Display angezeigt. Damit lassen sich die Eingangstüren des Go-Stores öffnen. Mein Smartphone muss ich dafür auf einen Scanner legen, der QR-Code wird gescannt, und die Schranken öffnen sich. Auf diese Weise wird registriert, wer den Supermarkt betritt.

In der App muss ich eine Kreditkartennummer hinterlegen, davon wird nach meinem Einkauf das Geld abgebucht. Ein Kamerasystem, das im Laden eingerichtet ist, kann nachvollziehen, welcher Kunde eine Ware aus dem Regal genommen hat, und kann diese Informationen dem dazugehörigen Smartphone zuordnen. In dem etwa 170 Quadratmeter und damit nicht besonders großen Geschäft sieht es aus wie in einem normalen Supermarkt.

Es sind überraschend viele Mitarbeiter in orangenen T-Shirts im Laden. Einer davon „bewacht“ die Alkoholabteilung. Da es keine Kassen gibt, an denen Ausweise kontrolliert werden können, ist ein Mitarbeiter extra dafür zuständig. Jugendliche – in Amerika muss man mindestens 21 Jahre alt sein, um Alkohol kaufen zu dürfen – könnten ja sonst einfach mit Schnaps und Bier aus dem Laden marschieren.

Ich schaue mich um. Überall an der Decke hängen Kameras, die in jede Richtung ausgerichtet sind. Zusätzlich sind auch direkt über den Regalen Kameras und Sensoren eingebaut, um jeden Handgriff, etwa wenn man sich im letzten Moment doch umentscheidet und die Ware wieder zurücklegt, zu registrieren. Ich fühle mich beobachtet – von allen Seiten gefilmt zu werden, ist befremdlich. Als ich vor dem Getränkeregal stehe, habe ich das Gefühl, jemand schaut mir direkt über die Schulter.

Ich nehme eine Flasche aus dem Regal, der Preis dafür steht auf einer digitalen Anzeige am Regalbrett. Demonstrativ stelle ich die Flasche wieder zurück. Hoffentlich hat das System das gemerkt, denke ich, sonst müsste ich das Getränk ja bezahlen. Ich entscheide mich für einen Eistee, nehme ihn aus dem Regal und behalte ihn ersteinmal in der Hand. Neben mir sind noch eine halbes Dutzend anderer Leute im Laden. Die meisten sehen genauso unwissend aus wie ich mir vorkomme, gleichzeitig aber auch neugierig. Eilig scheint es niemand zu haben. Den Passanten, die zufällig vorbeikommen und in den Laden wollen, erklärt ein Mitarbeiter an der Tür, wie es funktioniert.

Mit wenigen Schritten habe ich den ganzen Laden einmal abgelaufen und die Lebensmittel inspiziert. Anders als im Internet bekomme ich hier nicht das ganze Amazon-Sortiment, sondern nur Lebensmittel – Amazon lässt diese von einer eigens aufgekauften Bio-Supermarktkette anliefern. Wenn ich nur mal eben etwas für’s Abendessen bräuchte oder mir einen Snack für meine Fünf-Minuten-Pause kaufen wollte, dann würde das wohl ziemlich schnell gehen – zumal ich an keiner langen Kassenschlange warten müsste.

Auf dem Weg zum Ausgang nehme ich noch eine Tafel Zartbitterschokolade mit. Ich lese über der Tür den Schriftzug „Vielen Dank für Ihren Einkauf. Sie dürfen (wirklich) einfach gehen!“ – natürlich auf Englisch. Gesagt, getan! Ich gehe durch die Schranke wieder raus. Kein Alarm, kein Mitarbeiter, der mir hinterherstürmt. Ich nehme erstmal einen Schluck von meinem frisch erworbenen Eistee. Im Dezember 2016 wurde der Go-Store mitten auf dem Amazon-Gelände eröffnet – damals als Testprojekt nur für Mitarbeiter.

Seit Januar dieses Jahres dürfen dort alle einkaufen. Mein Besuch im Go-Store hat genau drei Minuten und 49 Sekunden gedauert, das bestätigt mir die App noch mit einer Nachricht.

Ein paar Stunden später erhalte ich über die App auch meine Rechnung: Stimmt alles!

Einkaufen ohne Kassen – bald in Deutschland?

Die EU-Datenschutzverordnung macht eine Umsetzung schwer. Unmöglich sei das Projekt aber nicht.

Was als Pilotprojekt für die Mitarbeiter des Internet-Riesen Amazons begann, könnte in den USA in mehreren Städten bald Gang und Gäbe sein. Am vergangenen Montag eröffnete Amazon einen zweiten kassenlosen Supermarkt in Seattle. Wie die Zeitung „Seattle Times“ berichtet, gibt es auch Pläne für Läden in Chicago und San Francisco. Könnte der kassenlose Supermarkt auch bald nach Deutschland kommen?

Ein solches Erfassungssystem müsse erst ausreifen, heißt es in einem Bericht der Deutschen Presse Agentur. Auch Fragen zum Datenschutz seien noch offen, denn die Datenschutzregelung in den USA ist mit der Datenschutzverordnung der EU nicht vereinbar. Der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte kritisierte in einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“, dass für die Kunden des Amazon-Go-Stores nicht nachvollziehbar sei, welche Daten genau durch die zahlreichen Kameraaufzeichnungen gesammelt und wie diese dann genutzt werden.

Schwierig werde es immer dann, wenn Informationen zum sogenannten „Profiling“ gesammelt würden, erklärt Johannes Pepping, Pressesprecher der Landesdatenschutzbeauftragten Niedersachsen, auf Anfrage. Das seien Informationen, aus denen sich ein Profil einer Person wie Interessen, Vorlieben oder Gewohnheiten zusammensetzen.

„Wenn ein Unternehmen ein solches Projekt plant, muss vorher ein Datenschutzkonzept vorgelegt werden, welches wir dann auf Grundlage der EU-Datenschutzverordnung prüfen.“ In den USA laufe dies aber anders ab. Auszuschließen sei es nicht, auch in Deutschland in Zukunft nicht mehr an der Kasse anstehen zu müssen. „Das ist ein Blick in die Glaskugel“, so Pepping.

Die Antwort Amazons auf eine Anfrage, ob ein ähnliches Konzept wie in Seattle auch für Deutschland geplant ist, fällt knapp aus: „Amazon hat dazu keine Ankündigung gemacht.“

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Über die Autorin:

Friederike Noske: geboren am 1. April 1993 in Salzgitter, Studium an der Technischen Universität Braunschweig, 2-Fächer-Bachelor: Geschichte und English Studies. Juli 2017 bis März 2019 Volontariat bei der Braunschweiger Zeitung