Braunschweig. Der Betreiber des Blogs Schlecky Silberstein regt ein Umdenken beim Vermitteln von Lehrinhalten an. Wie ein Nackter dabei helfen soll.

Ist es möglich, Schülern anhand von Internetvideos die verschiedenen Akte eines klassischen Dramas zu vermitteln? Wenn es nach der Meinung von Blogger Christian Brandes alias Schlecky Silberstein geht, auf jeden Fall. Es brauche lediglich das richtige Beispiel, um seine kontroverse These nachzuvollziehen, meint er und liefert auch gleich ein schlüpfriges mit, aber dazu später mehr.

Brandes betreibt seit 2011 einen Internetblog unter seinem Künstlernamen Schlecky Silberstein. „Angefangen habe ich die Seite ursprünglich mal für mich selbst. Damit ich den ganzen Unsinn, auf den ich so stoße, nicht vergesse. Irgendwann habe ich dann etwas von diesen Fundstücken über meinen privaten Facebook-Account gepostet und meine Freunde fanden das ganz witzig“, erinnert sich Brandes.

Der Kurator des Internets

Inzwischen hat sich der gebürtige Bremer eine amtliche Fangemeinde – nahezu 130 000 Follower auf Facebook – erarbeitet, die täglich mit dem witzigsten Zeug, dass das Internet hergibt, versorgt werden will. „Ich durchforste das Web nach Schwachsinn, der noch ein kleines bisschen künstlerischen Anspruch hat“, sagt er. Dabei sieht sich der 35-Jährige weniger als Blogger, eher als eine Art Kurator des Internets, der seine Fundstücke in Blogform kontextualisiert.

Das Filtern des ganzen Quatsches, aus dem das Netz größtenteils bestehe, sei unfassbar zeitraubend und teilweise arg nervig, denn „die Leute machen wirklich bescheuertes Zeug und verbreiten es im Internet“. Aber nur so könne er seine angestrebte Qualität auch dauerhaft gewährleisten. Davon leben könne der Familienvater jedoch nicht. „Das ging mal für eine gewisse Zeit durch Werbebanner, aber dann kamen die Ad-Blocker“, erklärt er den Umsatzrückgang. Deshalb füttert er seinen Blog heute nur noch parallel zu seinem „richtigen“ Job als Unterhaltungschef beim Bohemian Browser Ballet – ein Youtube-Format, das zum Online-Medienangebot der ARD und ZDF gehört. Egal, ob auf Schlecky Silberstein oder beim Bohemian Browser Ballet, das Ziel lautet immer: Viralität. Das heißt, dass mit einem Beitrag in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Reichweite erzielt werden soll.

Nackter Mann trifft Glasscheibe

Eines der viralsten Videos, das jemals auf Schlecky Silberstein lief, war ein nackter Mann, der einen Tennisplatz erobern will. Dabei übersieht er allerdings, dass der Platz von einer Glasscheibe geschützt wird. Es passiert, was passieren muss: Der Nackte knallt gegen die Scheibe, fällt hin und läuft wieder weg. Klingt banal, ist tatsächlich aber ganz witzig. Für Brandes geht der Inhalt des Videos sogar über den ohnehin schon zweifelhaften Humor hinaus. „Auf den ersten Blick ist dieses Video einfach nur beknackt. Sieht man es jedoch genauer und unter dramaturgischen Gesichtspunkten an, dann erfüllt dieses 25-Sekunden-Video alle Aspekte des klassischen Dramas.“ So sei der Auftritt des nackten Mannes die Exposition, das Zulaufen auf die Scheibe könne als Komplikation und der Moment kurz vor dem Aufprall als Klimax gewertet werden. Die abschließende Tragödie bestehe in dem Aufprall selbst, die Katharsis sei das Weglaufen.

Der nackte Mann rennt mit viel Elan gegen die Glasscheibe.
Der nackte Mann rennt mit viel Elan gegen die Glasscheibe. © Screenshot

Überdies stößt Brandes im gleichen Atemzug den Gedanken an, dieses Video als Vermittlungsansatz in Schulen zu verwenden: „Wäre man jetzt ein moderner, progressiv denkender Deutschlehrer, dann könnte man seine Klasse sicherlich auch mal so in das Thema „Drama“ reinholen, indem man ihnen Sekunde für Sekunde dieses Video zeigt, über das sich zwar alle schlapplachen, das aber trotzdem dazu dient, die Merkmale eines Dramas aufzuzeigen“, sagt Brandes.

Daraus könnte sich wiederum eine Hausaufgabe ergeben, die von den Schülern verlangt, selbst nach Youtube-Videos zu suchen, die diese Kriterien erfüllen. „Das wäre eine gute Sache für die Kinder und die Lehrer hätten den Bildungserfolg in der Tasche“, mutmaßt der gelernte Werbetexter. Allerdings relativiert er seine Aussage kurz darauf: „Man darf natürlich nicht nur anhand von Youtube-Videos unterrichten. Um gewisse Inhalte kommt man auch gar nicht herum, weil sie sich immer wieder durch die Kulturgeschichte ziehen. Es geht darum, den Kindern etwas Außergewöhnliches zu bieten, damit sie vom Handy mal wieder an die Tafel schauen.“

Nun ist die Ansicht, dass das deutsche Schulsystem eines neuen Anstrichs bedarf, nicht revolutionär. An vielen Stellen schreitet die Digitalisierung der Klassenräume bereits mit großen Schritten voran, in vielen Köpfen sei sie jedoch noch nicht angekommen, meint Brandes. Das liege oft auch am fortgeschrittenen Alter der Lehrkräfte.

Guter Gedanke – falsches Beispiel

Rückendeckung bekommt der erfolgreiche Blogger dabei von Prof. Dr. Jan Standke, Vertretung der Professur Literaturdidaktik an der TU Braunschweig, – zumindest wenn es um den Kerngedanken von Brandes Ausführungen geht. Das angeführte Beispiel hält Standke allerdings für äußerst ungeeignet: „Es mag schon sein, dass man diesem Video irgendwie den strukturellen Aufbau des klassischen Dramas analytisch aufzwingen könnte. Dafür müsste man dieses peinliche Video aber schon ausgesprochen ernst nehmen.“ Wenn es aber um die Vermittlung dramatischer Inhalte im Kontext neuer Medien geht, schlägt Standke in dieselbe Kerbe wie Brandes.

Es spreche überhaupt nichts dagegen, im Deutschunterricht auch populäre Filme, TV-Serien oder Youtube-Videos heranzuziehen. „Im Gegenteil: Die Schüler sind häufig überrascht, wie aktuell das Drama auch heute noch sein kann“, sagt der Professor für Literaturdidaktik. Ohnehin sei das literarische Lernen mit digitalen Medien ein ständiges Thema im Lehramtsstudium am Institut für Germanistik der TU Braunschweig. So soll die nächste Generation von Lehrern deutlich besser auf die neuen Ansprüche der Schüler vorbereitet sein, als ihre betagten Kollegen. „Es ist dabei aber wichtig, diese Medien nicht losgelöst von literarischen Texten zu betrachten“, mahnt Standke.

So ganz ohne Schiller, Shakespeare und Goethe im Schulunterricht wird es also auch zukünftig nicht gehen, aber eine gewisse Offenheit für neue Medien kann letztendlich nur fruchtbar für alle Seiten sein, wie Standke bestätigt: „Digitale Medien bestimmen die Lebenswelt von Schülern. Mit dieser Entwicklung muss sich der Deutschunterricht befassen. Sinnvolle Ansätze gibt es bereits in großer Zahl. Auf nackte Männer, die gegen Scheiben laufen, können wir verzichten.“