Braunschweig. Die Frauentennis-Chefin spricht über Kerber und Co., deren Nachfolgerinnen, ihre Komfortzonen und den Mangel an Rollenverständnis und Respekt.

Im Vorjahr war sie krank und sagte kurzfristig ab. Doch diesmal stattete Barbara Rittner zwei Tage vor ihrem Flug zu den US Open mit Hündin Rone dem Braunschweiger Weltranglistenturnier Womens Open ihren Besuch ab. Mit Redakteurin Ute Berndt sprach die Chefin des deutsches Frauentennis über Angie Kerber und Co., die neue Talent-Generation und gesellschaftliche Trends, die ihr nicht gefallen.

Frau Rittner, warum sind Sie diesmal zu den Womens Open nach Braunschweig gekommen?

Ich habe mit Ausnahme von Leipzig alle 25.000-Dollar-Turniere besucht. Das ist eine tolle Möglichkeit, viele von unseren Spielerinnen aus dem Talent-Team und dem Junior-Team zu sehen, nah dran zu sein und mich mit ihren Trainern auszutauschen.

Ich bin sehr dankbar, dass es diese Turniere in Deutschland gibt, bei denen wir unsere Spielerinnen unterbringen und auch mal Jüngere per Wildcard auf hohem Niveau ins Frauentennis reinschnuppern lassen können. Und ich bin da, um den Organisatoren etwas zurückzugeben und sie zu unterstützen. Es ist mein Dankeschön an Freddy Pedersen und sein Team.

Als Sie im Februar zum Fed-Cup-Duell mit Weißrussland in der VW-Halle waren, wurde beklagt, dass hinter den Ü-30-Profis des Nationalteams eine große Lücke klafft...

Das ist so typisch deutsch, dass wir jetzt zwei Jahre lang darüber reden, dass deren Karrieren zu Ende gehen. Ja. Sie haben Tolles geleistet und sind nicht mehr in der Pflicht. Trotzdem ist Olympia 2020 nochmal ein großes Ziel für alle, und ich bin sicher, dass die Generation Kerber/Petkovic/Görges noch Erfolge feiern wird. Vor allem Angie Kerber hat sich schon so oft aus schwierigen Situationen gerettet, das wird sie auch wieder schaffen. Sie war erst krank, dann schwer verletzt, dann hat sie sich vom Trainer getrennt. Sie muss sich wieder finden und Ruhe reinbringen.

Aber vier Spielerinnen in den Top-Zwölf – das geht nicht in jeder Generation. Und wir werden auch nicht alle 10 oder 20 Jahre eine Wimbledon-Siegerin haben. Ich hoffe trotzdem, dass die nächste Generation bald aufschließt. Tennis-Deutschland wird nicht untergehen.

Die Folgegeneration um Carina Witthöft oder Antonia Lottner stagniert, haben Sie selbst schon beklagt. Die nächste Generation spielt derzeit unter anderem in Braunschweig. Sehen Sie hier Spielerinnen, die sie irgendwann die Lücke schließen können?

Jule Niemeier und Katharina Gerlach haben zuletzt bei den kleinen Turnieren gute Ergebnisse gemacht, sie gewonnen oder standen im Finale. Zu dieser Generation gehören noch weitere wie Katharina Hobgarski oder Anna-Lena Friedsam. Jule ist die jüngste von denen und spielt schon sehr dominant. Das Potenzial, unter die Top 100, in die Grand-Slam-Hauptfelder, zu kommen haben sie auf jeden Fall. Und noch mehr. Wobei der Erfolg von vielen Faktoren abhängt, auch von Umfeld, Glück, Sponsoren. Man darf auch nicht unterschätzen, was Teilerfolge mit Spielerinnen machen. Nachdem Julia Görges mit 22 Jahren Stuttgart gewonnen hatte, war sie eine andere Spielern. Ich glaube, dass einige aus der jungen Generation auf einem guten Weg sind. Man muss ihnen Zeit geben. Ich sage den Jungen: Durchhalten, konstant hart arbeiten und Druck aushalten!

Ist es heutzutage ein immer längerer Prozess, in die Weltspitze vorzustoßen? Oder können auch deutsche Spielerinnen mal ganz schnell durchstarten?

Das geht heute theoretisch auch. Aber dieser Art Überfliegerin haben wir derzeit nicht, das sehe ich ganz nüchtern. Andrea Petkovic war sehr früh oben dabei. Aber der Prozess ist individuell und hängt auch von der körperlichen Entwicklung, Schule et cetera ab. Ich glaube nicht, dass uns eine Spielerin derart überrascht und nächstes Jahr in einem Grand-Slam-Halbfinale steht. Da waren Kerber und Co. schon eine besondere Generation. Sie waren auch härter, haben es ausgereizt und immer was gefunden, wo sie noch professioneller werden können. Bis heute...

Braunschweigs Turnierdirektor Freddy Pedersen hat die Reform des Internationalen Tennisverbands kritisiert, durch die die ITF bei den Turnieren Plätze reserviert und Spielerinnen von einer zweiten Rangliste neben der Weltrangliste einspeist. Was sagen Sie dazu?

Ich halte gar nichts davon und habe mich dafür eingesetzt, dass das wieder rückgängig gemacht wird. Eine zweite Rangliste einzuführen, ist die größte Unsinns-Idee seit langem gewesen. Die Jüngeren sollten plötzlich Punkte für die Jugend-Rangliste, die ITF-Rangliste und die Frauen-Rangliste sammeln – das kannst du nicht! Es war ein bitteres Jahr für unsere jungen Spielerinnen, die nicht mehr in die Turniere kamen, weil die ITF da Plätze blockiert hat – und das für meist schwächere Spielerinnen. So war für junge, ambitionierte Mädchen eine sinnvolle Planung kaum mehr möglich. Man kann ja nicht für ein Turnier in Brasilien melden, in der Hoffnung reinzukommen, und dann steht man da und wird abgewiesen. Die ganze Sache war nicht zu Ende gedacht, und ich bin froh, dass das wieder rückgängig gemacht wird und es wieder mehr Spielmöglichkeiten für unsere Mädels gibt.

Wie sind Sie mit ihren Förderungsmöglichkeiten zufrieden? Hat sich da etwas verändert?

Ich habe das Gefühl, dass wir die unter 18-Jährigen noch nie so intensiv gefördert haben wie zurzeit, sowohl von der Manpower her als auch finanziell. Aber die sind nie zufrieden und damit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft – womit wir bei meinem neuen Lieblingsthema wären.

Erzählen Sie.

Jammern auf hohem Niveau, die Komfortzone selten verlassen wollen, die Verantwortung nicht bei sich suchen, immer den anderen die Schuld geben – das zieht sich doch durch alle Ebenen. Und da komme ich zu dem Punkt, an dem ich sage, wir müssen in der Gesellschaft alle unsere Rollen wieder finden und definieren.

Was heißt das in Bezug auf Tennis?

Die Eltern müssen den Trainern mehr vertrauen und selbst wieder die Rolle von Eltern übernehmen. Und die Spielerinnen müssen beide Rollen akzeptieren. Nur so kommen wir weiter, mit klaren Rollen und gegenseitigem Respekt und Vertrauen. Die Komfortzone zu verlassen, heißt, bereit zu sein, auch mal unbequeme Dinge in Kauf zu nehmen, einen Lehrgang 300 Kilometer entfernt oder einen Turnierstart im Ausland. Man muss den Willen und die Begeisterung mitbringen, den Weg gehen zu wollen, weil es ein schwerer Weg ist. Aber heute heißt es zu oft: eine dritte Stunde Training? Nein, lieber zwei Stunden Physio...

Ich hatte neulich ein interessantes Gespräch mit Boris Becker zu diesem Thema und teile seine Ansicht. Er sagt, der heutigen Generation fehlt die Liebe zu dem Sport. Sonst würde sie hartes Training gar nicht als Verlassen der Komfortzone empfinden. Bei mir war es auch so, ich habe Tennis geliebt und wollte gar nichts anderes tun.

Was wollen denn die Spielerinnen heute?

Es gibt einfach so viel Ablenkung, vor allem durch Social Media. Ich könnte die Handys an die Wand klatschen. Ich bin in der Kommission des DOSB mit Bundestrainern vieler anderer Sportarten, und alle sagen das Gleiche: Die Jungen sind verwöhnt und so abgelenkt, dass sie es gar nicht mehr schaffen, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Es ist eine schwierige Zeit.

Und was tun Sie dagegen?

Ich beschäftige mich seit einem halben Jahr intensiv damit. Vor allem rede ich viel mit den Eltern und erkläre ihnen, was ihre und unsere Rolle ist, wie beide Seiten profitieren, wenn man sie einhält, und warum die Kinder sich auch mal quälen müssen. Wenn die Eltern mitspielen, können wir die Kinder besser lenken. Und wir müssen wieder dorthin kommen, dass mehr Vertrauen und Respekt untereinander herrscht.

Gibt es auch ein Smartphone-Verbot?

Ja, wir führen bei den Lehrgängen die „Me-Time“ ein. In den zwei Stunden nach dem Abendessen muss das Handy weg. Daran müssen sich auch die Eltern halten und können in dieser Zeit nicht anrufen. Die Spielerinnen finden das gut. Sie spielen Spiele zusammen, neulich wurde sogar ein Tanz einstudiert und ein Krimi aufgeführt. Aber ist ist auch okay, wenn sie mal was lesen, sich unterhalten oder über den Tagesablauf nachdenken. Ich sitze gerne an einem großen Tisch mit allen zusammen oder wir gucken den Becker- Graf- oder Nowitzki-Film. Ohne Handy ist der Stress weg. Dann kann man mal durchatmen.