Der russisch-deutsche Autor Wladimir Kaminer hat seine Kreuzfahrt-Erlebnisse literarisch verarbeitet. Am Dienstag liest er in Braunschweig

Der in Berlin und Brandenburg lebende Bestsellerautor russisch-jüdischer Herkunft schrieb Bücher über seine Zeit in der Sowjetunion und den deutschen Alltag. Für seine neueste Geschichtensammlung „Die Kreuzfahrer“ hat er auf „die reinste Arche Noah“ begeben: ein Kreuzfahrtschiff. Daraus liest er am Dienstag, 4. Dezember, um 19.30 Uhr in der Brunsviga, Karlstraße 35, in Braunschweig. Mit dem 51-Jährigen sprach Olaf Neumann.

Sie gehen regelmäßig als Unterhaltungsvorleser auf große Fahrt. Welches ist Ihr liebster Ort auf einem Kreuzfahrtschiff?

Die Bar. In meinem Buch hebe ich die Bar im Schatten auf Deck 11 hervor. Sie ist für mich wie eine Kapitänsbrücke auf der Arche Noah. Die Welt ist eigentlich nur von der Bar aus zu genießen. Die Seekrankheit hat schon so manchen Kreuzfahrtpassagier auf hoher See ereilt.

Hilft Alkohol dagegen?

Die Bar ist genau der richtige Ort, wenn das Meer unruhig ist. Alkohol macht die Seekrankheit wett. Die Alkoholisierung in Maßen gehört auf jeden Fall zu einer Kreuzfahrt dazu. Bei Aida ist es nicht so extrem wie bei anderen Anbietern, wo alles inklusive ist. Da wissen die Passagiere oft gar nicht, in welche Richtung sie fahren.

In Ihrem Kreuzfahrer-Buch dreht sich vieles ums Essen und Trinken.

Es gibt ein großes Überangebot, aber ich habe auch sehr dünne Menschen auf Kreuzfahrten gesehen. Man muss nicht alles in sich reinstopfen, was da ist. Auf meiner ersten Kreuzfahrt gab es viele Amerikaner. Die sind beim Essen einfach nicht zu halten. Die Deutschen hingegen können gut auf sich aufpassen, wenn sie trinken, essen oder singen.

Schlemmen Russen genauso gerne wie Amerikaner?

Die Russen tun auf Kreuzfahrten das, was sie immer im Urlaub tun: Sie spielen Tischtennis, sie sitzen im Whirlpool und sie küssen sich. Sie mögen es, wenn es warm ist und blubbert. Darin ähneln sie den Arabern, obwohl die sich in der Öffentlichkeit nicht küssen.

Sie schreiben darüber, wie Michail Gorbatschow einst das Trinkverhalten der russischen Bevölkerung verändern wollte. Wie erfolgreich war er damit?

Ich glaube, damit kann kein Politiker erfolgreich sein. Das Trinkverhalten der Russen ist unveränderbar seit der Gründung des Landes. Als der erste russische Fürst eine Glaubensrichtung für sein Volk wählen musste und sich für das orthdoxe Christentum entschied, obwohl der Islam eine viel größere Stütze hätte sein können, sagte er den Satz: „Das Trinken ist des Russen Spaß!“ Und wenn den Menschen der einzige Spaß geraubt wird, dann kann keine Macht sicher sein, dass sie weiter besteht.

Wann haben Sie das erste Mal Alkohol getrunken?

Mit 14 oder 15, wie alle anderen Menschen auch. Als Kind war ich ein begeisterter Leser, der viele Bücher eigentlich viel zu früh gelesen hat. Unter anderem die Autobiografie von Konstantin Georgijewitsch Paustowski. Ich habe schon früh festgestellt, dass die Biografien von Schriftstellern oft spannender und abenteuerlicher sind als ihre Werke. Deswegen sind auch meine Geschichten alle autobiografisch. Ich konstruiere keine Romane, wo die Helden sich am Anfang verlieren und am Ende zusammenkommen und zwischendurch lange aus dem Fenster schauen. Sondern ich versuche, in meinem Leben und im Leben meiner Mitmenschen etwas zu erkennen, was einen gehobenen Wert hat. Letztendlich bleiben von uns ja nur die Geschichten, wenn sie interessant genug sind. Ich denke, die Kreuzfahrer sind genau solche. Eine Mischung aus Schweinerei und Empathie. Für mich ein sehr liebevolles Buch.

Sie schreiben, die meisten Menschen, die gerade auf dem Weg sind, gehören den zwei größten Gruppen an: Touristen und Flüchtlinge.

Das zeichnet die heutige Welt aus: Das Leben wird in allen möglichen Ecken immer schwieriger, aber das Reisen immer leichter. Es gibt unglaublich viele Flüchtlinge und Touristen. Darum geht es in meinen zwei letzten Büchern. Mit Metaphern wie „Asyltourismus“ beeinflussen Politiker gerade, was Wähler denken.

Warum gehen Menschen überall Hetzern und Populisten so leicht auf den Leim?

Weil die Menschen, selbst wenn sie gar nicht auf Reisen gehen, sich manchmal wie Touristen fühlen. Sie schauen in ihrer Kleinstadt aus dem Fenster und erkennen ihre gewohnte Umgebung nicht wieder. Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass viele Menschen zu Reisenden geworden sind, ohne ihre Häuser zu verlassen. Unser Gehirn spielt uns ständig tragische Szenarien einer Fortsetzung vor. Die Menschen drehen durch und denken, morgen müssen sie in eine Moschee gehen. Deswegen wählen sie die AfD. Die enttäuscht ihre Wähler aber, weil dahinter keine vernüftig denkenden Politiker stecken, sondern lauter Spinner.

Müssen wir uns an die AfD gewöhnen oder wird sie wieder von selbst verschwinden?

Sie wird sich mäßigen. Wenn sie überleben will, wird sie sich auf die Mitte zubewegen müssen. Weil sie festgestellt hat, dass in Deutschland mit rechtsextremen Parolen kein Erfolg zu erzielen ist. Die Menschen sind einfach nicht extrem genug. Der Unmut ist zwar da, aber die Aggression hält sich in Grenzen. Die Deutschen haben ihre historischen Hausaufgaben sehr fleißig gemacht und sind nicht bereit, gegen irgendeinen Feind aufzumarschieren. Und schon gar nicht, wenn dieser Feind aus Frauen und kleinen Kindern mit Kopftüchern besteht. Deswegen wird die AfD sich ein anderes Thema suchen müssen. Aber momentan ist sie im Aufwind und hat gute Helfer wie Herrn Putin oder Mister Trump. Die Welt wird gerade an allen Ecken von kurzsichtigen egoistischen Arschlöchern regiert.

In Miami, wo eine Kreuzfahrt Sie hinführte, sahen Sie unzählige Obdachlose. Gab es Wohnungslosigkeit auch in der Sowjetunion?

Bei uns wurden Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit per Gesetz bestraft. Das waren kriminelle Taten. Man durfte sich nicht bereichern, aber man hatte auch nicht die Freiheit, auf der Straße zu verrecken. Im Sozialismus haben die Menschen alle Lebensaufgaben dem Staat überlassen und wurden zu Marionetten.

Waren Sie von den USA begeistert oder enttäuscht, als Sie das erste Mal dort waren?

Ich möchte kein Land schlecht reden, weil das ungerecht wäre. Gott sei Dank sehen nicht alle Länder gleich aus. Was wäre das für eine langweilige Welt! Amerika ist ganz anders, die Menschen dort sind etwas lauter, und viele von ihnen haben den gleichen Traum. Wenn sie einen anderen Traum haben, sind sie unglücklich. Mein Land ist das nicht, aber ich verstehe durchaus Menschen, die Amerika begeistert. Denn das Land ist sehr abenteuerlich. Eine Freundin von mir war mit zwei kleinen Kindern dort und wurde von einem Polizisten angehalten. Sie hat nicht sofort kapiert, dass sie die Hände die ganze Zeit am Lenkrad haben muss. Zwei Wochen nach der Rückkehr stotterten ihre Kinder immer noch vor Angst. Voll krass!

Und wo gibt es die schönsten Sonnenuntergänge, wo ist das Paradies?

In Warnemünde! Die Menschen dort sind ruhig. Die Natur ist nicht zerstört. Die Häuser sind nicht zu hoch und die Temperatur ist angenehm. Ich komme aus einer solchen Gegend: Moskau.

Haben die diversen Kreuzfahrten Sie für die Probleme des Klimawandels sensibilisiert?

Man muss keine langen Wege machen, um festzustellen, dass der Klimawandel existiert. Bei uns in Brandenburg findet mein Nachbar, der Biologe, jede Woche irgendwelche neuen Insektenarten aus Südamerika. Gefährliche Arten wie die Asiatische Tigermücke, die sich gerade durch Thüringen saugt. Die Menschen haben dem Planeten einen Tritt verpasst. Jetzt bekommen sie den Tritt zurück, das ist eine normale Entwicklung.

Haben Sie trotzdem vor, weiter auf Kreuzfahrt zu gehen?

Ehrlich gesagt, ja. Bei den Kreuzfahrten werden die Reisen selbst immer unwichtiger, dafür werden die Schiffe immer bombastischer. AIdanova zum Beispiel ist mit einen Nanostoff umwickelt. Man fühlt sich darauf wie auf dem offenen Meer. Die Sonne und das Licht dringen durch diesen Stoff hindurch, aber der Regen und der Wind nicht. Ein perfektes Schiff mit 17 Restaurants, das eine total langweilige Strecke fährt: Lanzerote – Gran Canaria/Gran Canaria – Lanzerote. Genau das machen wir jetzt.

Ist ein Kreuzfahrtschiff eine ganz eigene Welt?

Ja, aber sie ist durchsichtig. Man leidet auch mit der Welt mit, aber was kann man tun? Einen drauf trinken, dass alles gut geht!

Das Kreuzfahrtschiff spuckte Sie auch auf der beliebten griechischen Insel Santorini aus. Was hat Sie dort besonders beeindruckt?

Die unglaublich vielen Plastikflaschen, die im Wind um diese Insel herum fliegen! Während die anderen Touristen in Souverirshops abhingen, haben meine schwäbischen Freunde die großen Flaschen eingesammelt, weil sie den Anblick nicht ertragen konnten. Sie sagten zu sich: „Gott, gib uns dieses Griechenland für drei Jahre. Wir machen hier Ordnung!“ Und die armen Esel! Uns wurde geraten, wir sollten die Esel besser nicht nehmen, weil viele Touristen beim Reiten runterfallen. Von den Einheimischen erfuhren wir allerdings, dass die Esel gekillt werden, wenn sie nicht gebraucht werden. Jeder Ritt rettet also einen Esel! Santorini war schon sehr hart. Wenn die Armut der Welt sich nicht genug verbessert, werden wir bald noch mehr Armutsflüchtlinge an unseren Grenzen erleben.

Können Sie da noch ungetrübt einen Kreuzfahrturlaub genießen?

Die armen Menschen haben zum ersten Mal Geld, um reiche Menschen in Deutschland zu besuchen. Das ist ein Riesenschritt aus der Armut heraus. Diese Menschen wären bestimmt auch vor 30 Jahren schon sehr gern nach Deutschland gereist. Aber damals hatten sie keine Mittel dazu. Und die Kreuzfahrer wissen, dass sie bei sich zu Hause z.B. in Dresden noch mehr arme Menschen treffen als auf Reisen. Der Trend ist ja, das Schiff gar nicht mehr zu verlassen. Die Welt ist schön. Sie tut weh, aber sie lebt. Und das ist das Wichtigste. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, ich würde Schwarzmalerei betreiben.

Es gab auch in der Sowjetunion Kreuzfahrten. Wohin fuhren die Schiffe?

Von Moskau nach Astrachan und zurück, 20 Tage. Das wir da auch essen und trinken, war nicht vorgesehen. Niemand hat uns versprochen, uns unterwegs zu füttern. Man musste sich Lebensmittel mitbringen oder sie irgendwo finden. Meine Kreuzfahrt fiel in die Zeit des Trockenheitsgesetzes von Gorbatschow. Irgendwie kamen wir aber durch. Wenn ich zurückblicke, wundere ich mich, wie wir in der Sowjetunion überlebt haben. Und das gibt mir die Hoffnung, dass wir auch die heutige Situation irgendwie schaukeln. Die Politiker werden die Welt nicht retten, aber vielleicht die Bürger.

Sie haben seit Ihrer Übersiedlung nach Deutschland viel Kritisches über Herrn Putin geschrieben. Trauen Sie sich da noch, mit einem Kreuzfahrtschiff nach Russland zu reisen?

Ich war schon auf einer Kreuzfahrt nach St. Petersburg. Auf dem Schiff bin ich auf deutschem Territorium. Irgendwann werde ich dort auch mal aussteigen, wenn die Lage in Russland sich beruhigt hat. Zurzeit passiert dort politisch sehr viel. Immer mehr Menschen wird die Hoffnungslosigkeit bewusst, die dieses Regime mit sich bringt. Eines Tages werden das auch die Eliten merken und Veränderungen anstreben. Russland ist ein zu großes Land, um wegen ein paar KGB-Offizieren aus der Vergangenheit unterzugehen.

Kommt es gelegentlich vor, dass Sie an der Ungerechtigkeit der Welt verzweifeln?

Das kommt nicht vor. Ich bin desillusioniert, was den Kern unser Zivilisation betrifft, aber ich bin Optimist. Wir habe eine irre Evolution hinter uns. Trotz aller Flüchtlingsströme war die Welt noch nie so friedlich wie heute. Noch nie haben wir so gut gelebt, auch in Russland. Letztendlich wird auch die Flüchtlingswelle sehr positive Auswirkungen haben auf die Zukunft.

Kann Literatur die Welt postitiv verändern?

Nein. Aber das Lesen und Schreiben macht große Freude. Die Literatur ist ein Zeichen der Gesundheit einer Gesellschaft. Gute Literatur ist wie eine Freikarte für eine Weiterfahrt. Wenn Menschen keine Bücher mehr schreiben, dann können sie mit der Realität gar nichts mehr anfangen. Das wäre eine Niederlage für eine Gesellschaft.

Wladimir Kaminer: Die Kreuzfahrer Wunderraum, geb. Originalausgabe, 224 Seiten, 20,00 Euro.