Wolfgang Kraushaar ist der größte Kenner der 68-er Revolte. Bei den Helmstedter Universitätstagen spricht er über die Revolutionsromantik.

Das Thema der Universitätstage lautet „Revolution! Verehrt – verhasst – vergessen“. Am Sonnabend, 22. September, spricht um 12 Uhr Professor Wolfgang Kraushaar. Er ist der wohl renommierteste Kenner der 68er Studentenrevolte. Vorab beantwortete er die Fragen unseres Redakteurs Martin Jasper.

In Helmstedt lautet Ihr Thema „Die Revolutionsromantik der Studentenbewegung“. Finden Sie die Idee, im saturierten Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik der späten 60er Jahre eine sozialistische Revolution anzuzetteln, nachvollziehbar oder eher absurd?

Im Nachhinein mag einem das in der Tat wie aus der Welt gefallen vorkommen. Doch dem war damals keineswegs so. Obwohl man ja mit der DDR eigentlich ein abschreckendes Beispiel des Staatssozialismus vor Augen hatte, bestand der große Nenner der 68er-Bewegung darin, die Bundesrepublik mit einem sozialistischen Modell beglücken zu wollen. Diejenigen, die das gesamte System mit revolutionären Mitteln stürzen wollten, stellten aber in der außerparlamentarischen Bewegung, deren Mehrheit reformerische Ziele wie eine Demokratisierung verfolgten, eher eine Minderheit dar.

Inwiefern ist diese Idee romantisch?

Schon die Vorstellung, das politische System gegen die Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft stürzen zu wollen, bedarf ja einer utopischen Kraft, die weit über die realpolitischen Kalküle von Parteien und anderen Organisationen wie Gewerkschaften hinausgeht. Und hier kommt die Romantik zumindest bei jenen ins Spiel, die einen revolutionären Umsturz für unvermeidlich hielten. Es ist alles andere als Zufall, dass sie sich mit den sogenannten Befreiungsbewegungen der Dritten Welt identifizierten, etwa mit dem Vietcong und den zahllosen Guerillaorganisationen in Lateinamerika und Afrika. Da schwang immer etwas Romantisches mit, nicht zuletzt die Begeisterung für ferne Länder und Kulturen. Romantik steht in diesem Kontext für zweierlei: für Verklärung sowie für eine tendenzielle Flucht aus der Realität.

Halten Sie die Auswirkungen der Studentenrevolte auf die bundesrepublikanische Gesellschaft für positiv, negativ oder indifferent?

Dass die Studenten- bzw. 68er-Bewegung bis auf den heutigen Tag folgenreich geblieben ist, halte ich zunächst einmal für unbestreitbar. Mit dem Abstand all dieser Jahrzehnte möchte ich zunächst einmal festhalten, dass die Studentenbewegung um 1968 herum geradezu überfällig war. In der frühen Bundesrepublik, die ja durch die Adenauer-Ära geprägt war, der man mit der Westbindung mehr zu verdanken hatte, als man seitens der linken Kritik seinerzeit einzuräumen bereit war, gab es gesellschaftspolitisch betrachtet ja einen gehörigen Reformstau – insbesondere in der Bildungs-, der Erziehungs-, der Familien- und der Kulturpolitik. Und um diesen Knoten zu lösen, bedurfte es eines starken Impulses. Als Willy Brandt als Kanzler der sozialliberalen Koalition im Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung die geflügelten Worte „Mehr Demokratie wagen” benutzte, war das ein Aufbruchsignal für die reformerischen Kräfte unter den 68ern, die nun etwas politisch umsetzen wollten, für was sie zuvor auf die Straße gegangen waren.

Was halten Sie von der These Götz Alys, dass die Studenten damals im Grunde die autoritären Verhaltensmuster ihrer nationalsozialistisch geprägten Elterngeneration wiederholten?

Offen gesagt: wenig bis gar nichts. Bereits der Titel „Unser Kampf”, den er seiner vor einem Jahrzehnt erschienenen Studie verpasst hat, verrät die Kurzschlüssigkeit, mit der er in seiner Deutung vorgegangen ist. Die 68er-Bewegung ist wahrlich keine Parallelbewegung zum Nationalsozialismus gewesen. Sie richtete sich gegen die gesellschaftlichen wie die staatlichen Hinterlassenschaften des NS-Regimes und bekämpfte insbesondere die rechtsradikale NPD.

Sie haben einmal den Zusammenhang zwischen Marxismus und Protestantismus bei den damaligen Revoluzzern hervorgehoben. Worin genau bestand der?

Ja, ich bin der Überzeugung, dass die religiösen Wurzeln des linken Protests zu lange übersehen, wenn nicht gar absichtlich ignoriert worden sind. Das Projekt einer linken Gesellschaftsveränderung ist in überwiegender Mehrzahl von protestantisch sozialisierten Aktivisten verfochten worden. Auch wenn sie keine Kirchgänger mehr gewesen sein dürften, so hatten sie doch den Wertekanon des christlichen Glaubens weitgehend verinnerlicht. An der Rigorosität, mit der sie sich etwa gegen den Vietnamkrieg wandten, lässt sich ablesen, wie sehr ihre politische Moral seinerzeit christlich aufgeladen war. Auch in dieser Hinsicht ist Rudi Dutschke, der ja in einer streng gläubigen protestantischen Familie aufgewachsen war, in seiner Haltung exemplarisch gewesen. Für ihn war das Rebellische nichts anderes als gelebtes Christentum. Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer sagte bei Dutschkes Beerdigung 1980: „Rudi Dutschke hat die Bergpredigt wörtlich verstanden.“ Wahres Christentum bestand für ihn wie viele andere 68er auch vor allem darin, politisch verantwortungsvoll zu handeln.

Damals war der Zeitgeist links, heute werden uns Revolutionen eher von rechts an die Wand gemalt. Was hat zu diesem Wandel geführt?

Inzwischen hat sich das kapitalistische System, gegen das so viele 68er vergeblich Sturm gelaufen waren, fundamental verändert hat. Ich nenne drei zentrale Punkte: Neoliberalismus, Globalisierung und Digitalisierung. Das hat zum Vormarsch des Rechtspopulismus geführt. Denn beim sich gegenwärtig in Ostdeutschland und erheblichen Teilen Europas weiter ausbreitenden und in den USA mit Donald Trump an der Macht befindlichen Rechtspopulismus handelt es sich im Kern um eine Reaktion auf die Globalisierung. Um deren negative Folgen zu vermeiden, wird eine Politik der Abschottung, des Ressentiments und der Renationalisierung betrieben. Damit sind nicht unerhebliche Gefährdungspotentiale für die parlamentarische Demokratie insgesamt verbunden.

Die Revolutionäre von 68 wollten die parlamentarische Demokratie überwinden. Ohne Erfolg. Glauben Sie, dass es den Rechten von heute gelingen könnte?

Obwohl die AfD neuesten Umfragen zufolge mit 25 Prozent die stärkste Partei in den neuen Bundesländern geworden ist, bin ich nicht der Überzeugung, dass die Bundesrepublik so schnell ihr politisches Gleichgewicht verlieren wird. Die Migration, von der die AfD gewiss unablässig zu profitieren versucht, ist keineswegs die „Mutter aller Probleme”, wie das Innenminister Seehofer uns gerne einreden würde. Auch in dieser Hinsicht bedarf es einer größeren Gelassenheit. Neueste empirische Ergebnisse zeigen, dass rund zwei Drittel der Bundesbürger die Vorteile einer Einwanderungsgesellschaft noch immer begrüßen.

Wie beurteilen Sie die Erfolgschancen der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht?

Mich würde es nicht wundern, wenn es sich um eine Totgeburt handelt. Insbesondere auch deshalb: Je erfolgreicher sie würde, desto stärker müsste sie mit den Zielen ihrer Partei „Die Linke” kollidieren. Und das könnte eigentlich nur zum Ausschluss der beiden führen.

Glauben Sie, dass der Sozialismus, in welcher Form auch immer, das Zeug zu einer Renaissance hat?

Das lässt sich gewiss ausschließen. Seit dem Epochenumbruch von 1989/90 müsste noch dem Letzten klar geworden sein, dass alle Versuche, auf staatlichem Weg eine sozialistische Gesellschaft herbeizuführen, gescheitert sind. In der Bundesrepublik scheint mir der größte Hinderungsgrund für die Anziehung eines sozialistischen Modells in der mangelnden ökonomischen Attraktivität zu bestehen. Die Gegenwartsgesellschaft definiert sich über den Konsum. In dieser Hinsicht weckt der Sozialismus vor allem eines: das Bild leerer Regale.