Braunschweig. Der ehemalige Chefredakteur unserer Zeitung starb mit 68 Jahren. Redaktionen sind voll mit Journalisten, die ihm zu tiefem Dank verpflichtet sind.

Paul-Josef Raue war ein Journalist, der Maßstäbe setzte. In dem Handwerk, das er im ersten Jahrgang der Hamburger Journalistenschule unter der strengen Führung Wolf Schneiders gelernt hatte, konnten ihm nur Wenige das Wasser reichen.

Seine Sprachsensibilität, sein feines Gespür für die Doppelbödigkeit unserer Sprache, die voller Bedeutungsdifferenzierung und versteckter Botschaften steckt, machte ihn nicht nur zu einem herausragenden Reporter, der den Lesern seine Sinne lieh und sein Erleben und die Erträge seiner Recherchen virtuos in Sprache verwandelte.

Wie Schneider war er ein Sprachkritiker von Gewicht. Schludrigkeiten und Infamien unserer Begriffe und Formulierungen legte er mit der Akribie eines Archäologen und mit der Schärfe eines Strafverfolgers bloß. Man könnte sagen, dass er unsere Sprache vom Schutt befreite, bis ihre Schönheit wieder sichtbar wurde. Mit Schneider schrieb er das Handbuch des Journalismus, ein Standardwerk unserer Zunft, lohnende Lektüre aber auch für jeden anderen, der Medien verstehen und seine Ausdrucksmittel reflektieren will.

Raue beließ es nicht bei der Kritik. Die Redaktionen, die er leitete und sehr oft nachhaltig prägte, von der „Oberhessischen Presse“ in Marburg über die Magdeburger „Volksstimme“ und die „Braunschweiger Zeitung“ bis zur „Thüringer Allgemeinen“, verpflichtete er auf einen Qualitätskanon, den er kompromisslos einforderte. Hohen Anspruch stellte er auch an seine Verlage. Sein Blick für Qualität, Chancen, Schwächen und Versäumnisse war unter seinen Journalistenkollegen wie unter seinen kaufmännischen Begleitern legendär.

Die Besten unter ihnen schätzten (und ertrugen) sein Urteil, andere lernten, es zu fürchten. Raues Festigkeit provozierte Widerstand. Während seiner langen, erfolgreichen Laufbahn kam es immer wieder zu Konflikten. Keinen von ihnen hat er gesucht, keinem ist er ausgewichen, und fast immer setzte er sich durch. Denn stets war sein Standpunkt wohlfundiert.

Der fordernde Chefredakteur war zugleich ein Mann, der Talent erkannte und großzügig förderte - nicht zuletzt im Lokaljournalistenprogramm der Bundeszentrale für politische Bildung. Die deutschen Redaktionen sind voll mit Journalisten, die ihm zu tiefem Dank verpflichtet sind.

Raue war ein Journalist, wie wir ihn in dieser Universalität nur sehr selten finden. Er konnte Magazin - das Wirtschaftsblatt „Econy“, inzwischen in „Brand eins“ aufgegangen, hatte er mit aus der Taufe gehoben. Stets ausgezeichnet informiert, machte ihm bei der Einschätzung von Nachrichten niemand etwas vor. Und er konnte Konzept. Seine vielfach ausgezeichneten Serien vereinten umfassende Information und anregende Aufbereitung mit einer Gestaltung, die nicht effektheischend, aber in hohem Maße effektstiftend war.

Von den vielen Preisen, die er mit seinen Redaktionen sammelte, waren ihm die Deutschen Lokaljournalistenpreise der Konrad-Adenauer-Stiftung wohl die wichtigsten. Nicht nur, weil er die Kompetenz der Jury schätzte. So weltläufig er war, so intensiv er die Kontinente bereiste: Raue war in der Tiefe seines Herzens Lokaljournalist. Die Nähe zu den Menschen war ihm wichtig - der wahre Satz „Ein Journalist muss seine Leser lieben“ war keine Koketterie, sondern Haltung. Hier, in übersehbaren Zusammenhängen, konnte der Journalist seine Rolle als Anwalt der Leser, als Wächter über die Mächtigen mit besonderer Kraft und Wirkung spielen.

Unrecht weckte seinen Widerstand. In der VW-Korruptionsaffäre etwa gehörte Raue zu den kompromisslosesten Aufklärern, kein juristischer Widerstand und keine Heimtücke konnten ihn davon abbringen. Sein Herz gehörte den Aufrechten.

Die Freiheit der Presse verteidigte Raue mit aller Konsequenz. Als homo politicus wusste er, dass Freiheit durch mangelnden Gebrauch verkümmert. Und er verstand die Möglichkeiten eines Massenmediums als Verpflichtung, nicht nur Wächter, sondern auch Helfer zu sein. Die vitale Zivilgesellschaft, vor allem die Arbeit der Ehrenamtlichen, wurden unter seiner Führung zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeitung; der „Gemeinsam-Preis“ ist ihr klarster Ausdruck.

Bis in die letzten Tage blieb er journalistisch aktiv. Seine Kolumne im Mediendienst „Kress“ wurde viel beachtet und bot Ansatz für wichtige Diskussionen, über ethische Grundfragen wie zur digitalen Zukunft des unabhängigen Qualitätsjournalismus.

Paul-Josef Raue ist jetzt, 68-jährig, in Wolfenbüttel gestorben. Wir verneigen uns vor einem großen Journalisten, dessen Haltung und dessen Maßstäbe uns Verpflichtung bleiben. Seinen Angehörigen gilt unser aufrichtiges Beileid.