Wiesbaden. Erstmals führt eine Frau die Partei an. Der Denkzettel für Andrea Nahles zeigt die Zerrissenheit der Sozialdemokraten.

Andrea Nahles ist erstarrt. Das Ergebnis scheint sie in ihren Stuhl zu pressen. Minutenlang. Es gibt kein Entrinnen. Die Zahlen, die gerade im nagelneuen Wiesbadener Kongresszentrum verlesen wurden, sind erbarmungslos. 66,35 Prozent. Nahles starrt ins Leere. Dann lächelt sie matt, steht auf, nimmt wie in Trance die ersten Glückwünsche von Olaf Scholz entgegen.

Nahles wusste, dass die Abstimmung kein Spaziergang wird. Bei früheren Parteitagen tippte sie bei der Vorsitzendenwahl fast immer am besten die Ergebnisse. So auch die 74,3 Prozent von Sigmar Gabriel Ende 2015. Dieses Mal traute sie sich keine Prognose zu, was für jemanden wie Nahles, die den sozialdemokratischen Laden wie keine Zweite kennt, etwas heißen will. Die Schmach, noch schlechter als ihr Rivale Gabriel abzuschneiden, wollte sie auf jeden Fall verhindern.

Aus dem Nichts kommt das Misstrauen nicht. Nahles war wie Scholz nie ein Liebling der Genossen, 2013 bekam sie als „Generalin“ 67,2 Prozent. Zu stark klebten an ihr alte Bilder. Wie sie Franz Müntefering in den Rücktritt trieb oder 1995 in Mannheim als Juso-Chefin herumhüpfte, nachdem auch mit ihrer Hilfe Rudolf Scharping von Oskar Lafontaine gestürzt wurde. Der revanchierte sich mit dem ultimativen Lob, Nahles sei ein „Gottesgeschenk“ für die SPD. Zu viele der 631 Genossen, die in Wiesbaden abstimmen dürfen, sehen das an diesem historischen 22. April anders.

Herausforderin Lange zeigt

eine dürftige Performance

Dabei beginnt der Parteitag, an dem Nahles als erste Frau in 155 Jahren an der SPD-Spitze Geschichte schreibt, für die 47-Jährige fast ideal. Ihre Herausforderin Simone Lange zeigt eine dürftige Performance. Die Flens- burger Oberbürgermeisterin wollte unbedingt 30 Minuten reden. Dieses Zugeständnis trotzte sie dem Vorstand ab. Jetzt kann sie gerade mal 16 Minuten mit Inhalten füllen.

Die frühere Sachbearbeiterin bei der Kripo legt den Finger in die tiefe Wunde der auf 20 Prozent abgestürzten Volkspartei. „Uns fehlt es an Teamspiel, an Offenheit.“ Aber was will sie anders machen, was könnte sie besser als Nahles? Hartz IV müsse weg, sagt die Mutter zweier Töchter. Das ist ihre zentrale, aber auch einzige Botschaft. Die SPD habe mit den Arbeitsmarktreformen Millionen Menschen enttäuscht, „die auf uns gesetzt haben“. Lange wirbt für ein bedingungsloses Grundeinkommen, mit dem alle Bürger künftig frei von Armut leben könnten. Aber wer soll das bezahlen? Dazu sagt Lange kein Wort.

So scheint Nahles leichtes Spiel zu haben. Vor 30 Jahren gründete sie in ihrer Heimat in der Vulkaneifel mit Freunden einen Ortsverein: „Katholisch, Arbeiterkind, Mädchen, Land, muss ich noch mehr sagen?“, fragt sie in ihrer Bewerbungsrede.

Die Germanistin, die bis auf ein paar Jahre bei der IG Metall immer Politik gemacht hat und mit ihrer siebenjährigen Tochter auf einem umgebauten Bauernhof lebt, schaut ihre Mutter an, die
in der ersten Reihe sitzt. „Hallo Mama, du hast sicher nicht gedacht, dass ich heute hier stehen würde.“

Ein Wort taucht in Nahles’ starker Rede immer wieder auf: Solidarität. Diese müsse für die Sozialdemokratie neben Freiheit und Gerechtigkeit ein unverzichtbarer Wert sein. Wer will da widersprechen? Nahles knöpft sich die „neoliberale, turbodigitale Welt“ vor, die Rechtspopulisten in Europa, die sie verachte: „Diese Kräfte sind nicht das Volk, sie sind der Angriff auf das Volk.“ Klartext gibt es von ihr bei Hartz IV. Zum Unmut vieler Parteilinker hatte Finanzminister Scholz versucht, die Debatte per Interview zu beenden. So einfach macht es sich Nahles nicht. Wenn die Partei jetzt sage, die Agenda-Reformen seien abzuwickeln, wäre keine einzige Frage beantwortet. Gedanklich sollte auf diesem Feld kein Stein auf dem anderen bleiben, aber die Diskussion sollte nach vorne geführt werden.

Um 14.14 Uhr ist es so weit. Die 66 Prozent brechen über Nahles herein. Juso-Chef Kevin Kühnert, der den Groko-Kurs bekämpfte, aber für Nahles stimmte, ist erschrocken. Der Umgang mit Martin Schulz hätte eine Mahnung an die Partei sein sollen, endlich damit aufzuhören, auf einzelne Personen das Wohl und Wehe der SPD zu projizieren.

Die Partei- und Fraktionschefin darf zum Abschluss einen besonderen Rausschmeißer ankündigen: die Würdigung von Schulz. Nahles mag mit 66 Prozent für den Moment schlecht aussehen – Schulz stürzte von 100 Prozent auf null ab. Nahles dagegen kann als Trümmerfrau der SPD aufbauen. „Was du persönlich erlebt und ausgehalten hast, wie es ist, diese Achterbahn wirklich zu durchleben, das können wir nur ahnen“, sagt sie mitfühlend. Das letzte Wort in Wiesbaden gehört der neuen Vorsitzenden. Der Zusammenhalt in der SPD, „das ist noch ausbaufähig“.