Berlin. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles empfiehlt ihrer Partei, nicht mit falschen Erwartungen in die Koalitionsverhandlungen mit der Union zu gehen.

Auf diese Entscheidung wartet ganz Europa: Am Sonntag stimmt die SPD auf einem Sonderparteitag in Bonn darüber ab, ob sie nach den Sondierungen nun auch Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU aufnimmt. Im Gespräch mit Tim Braune, Jochen Gaugele und Jörg Quoos schätzt SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, dass ein Drittel der Delegierten noch unentschlossen ist.

Frau Nahles, was machen Sie,

wenn der SPD-Parteitag

gegen Koalitionsverhandlungen mit der Union stimmt?

Darüber spekuliere ich nicht. Wir werben für die Zustimmung zu Koalitionsverhandlungen und können das auch mit guten Gründen tun.

Haben Sie keinen Plan B? Ein SPD-Landesverband nach dem anderen spricht sich gegen eine Neuauflage der Großen Koalition aus ...

Ich habe keinen Plan B. Viele sprechen sich auch für Koalitionsverhandlungen aus. Die SPD ist eben eine sehr lebendige Partei, die miteinander um den besten Weg ringt. Wir sind keine Abnicker-Partei und wir machen uns auch nicht einfach vom Acker. Ich bin optimistisch.

Auf Neuwahlen stellen

Sie sich gar nicht ein?

Nein.

Wundern Sie sich darüber,

dass wesentliche Teile der Basis dem Schlingerkurs der Parteiführung nicht folgen wollen?

Nein, das verstehe ich sogar. Nach unserem erschütternd schlechten Wahlergebnis war die Lage klar, und wir haben uns für die Opposition entschieden. Dafür gab es auch breite Unterstützung. Durch das krachende Ende von Jamaika sind wir in der SPD in eine neue Lage geraten: entweder Verhandlungen mit der Union oder Neuwahlen. Wenn Sie das als Schlingerkurs bezeichnen, bitte – aber wir haben ihn nicht selbst verschuldet. Jetzt stellt sich die Frage: Reicht die Grundlage, die wir in harten Verhandlungen mit der Union erarbeitet haben, für eine neue Große Koalition? Ich bin davon überzeugt, dass wir in den Sondierungen ein gutes Ergebnis erzielt haben, um das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger ganz konkret zu verbessern.

Sie haben nach der Wahl die Stimmung angeheizt, als Sie in Aussicht stellten, der Union „in die Fresse“ geben zu wollen. Wie glaubwürdig können Sie nun für die Große Koalition werben?

Das war ein Scherz mit den Kabinettskollegen der Union. Aber richtig ist doch: Union, FDP und Grüne wollten diese Jamaika-Koalition unbedingt! Das konnte man ja vom Balkon herunter förmlich riechen. Aber sie haben es nach vier langen Wochen dann doch nicht hingekriegt. Diese neue Lage musste neu bewertet werden – und das haben wir getan. Wir haben uns in den Sondierungen mit der Union nicht zu hundert Prozent durchgesetzt. Aber viele Herzensanliegen der SPD sind nun möglich, für die wir seit Jahren kämpfen. Jetzt stehen wir an einer harten Weggabelung: Wollen wir, dass daraus Politik wird für die Menschen in unserem Land? Oder wollen wir Neuwahlen? Diese beinharte Entscheidung liegt bei den Delegierten des SPD-Parteitags.

Keine Bürgerversicherung, keine höheren Steuern für Reiche – hat die SPD wirklich gut verhandelt?

Wir haben nicht alles erreicht, was wir wollten. Aber es gibt ganz konkrete Fortschritte und Verbesserungen – in Deutschland und Europa – für Arbeitnehmer, für Auszubildende, für Familien, in der Bildung, in der Pflege und beim Wohnen. In der Rentenpolitik haben wir einen großen Erfolg erzielt: Wir garantieren bis 2025 ein gesetzliches Rentenniveau von 48 Prozent und geben damit Sicherheit und Vertrauen in die gesetzliche Rente, das lange nicht vorhanden war. Und wir haben die Solidarrente fest vereinbart. Das ist ein wesentlicher Durchbruch, ebenso wie die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung. Wir beenden damit die milliardenschwere Bevorzugung der Arbeitgeber zulasten der Arbeitnehmer – eine Frage der Gerechtigkeit. In der Steuerpolitik haben wir die sozialdemokratischste Soli-Abschaffung verabredet, die man sich nur vorstellen kann. Wir entlasten die kleineren und mittleren Einkommen – Spitzeneinkommen müssen den Soli weiterhin zahlen.

Was sagen Sie jenen in Ihrer Partei, die nachverhandeln wollen?

Es ist völlig normal, dass wir in fünf Tagen Sondierungen nicht alles vertieft ansprechen konnten. Deswegen werden wir noch einmal harte Koalitionsverhandlungen haben. Ich warne aber vor Illusionen. Wir haben die großen Themen durchgesprochen. Wir haben beispielsweise tagelang über die Bürgerversicherung oder die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen verhandelt und wir haben festgestellt: Die Union will das unter keinen Umständen.

Wo sehen Sie denn noch Spielraum?

Wir haben vieles noch nicht ausbuchstabiert, wenn es um Digitalisierung und die Zukunft der Arbeit geht, zum Beispiel bei der betrieblichen Mitbestimmung ...

Es geht also eher um Details.

Wir werden auch noch einmal einen Anlauf für die Bürgerversicherung machen, das verspreche ich. Aber ich streue den Leuten keinen Sand in die Augen. Die Verhandlungen sind an bestimmten Punkten ausgereizt. Das Ergebnis der Sondierungen liegt vor – und es enthält vieles, was für uns sehr wichtig ist. Es gibt aber einige – leider auch in meiner Partei –, die das Ergebnis kleinreden wollen.

Wen meinen Sie?

Alle, die es mit den Fakten nicht so genau nehmen. Was der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert in Sachsen-Anhalt zum Thema Rente gesagt hat, ist schlichtweg falsch.

Woran merkt man, dass Martin Schulz die SPD in dieser schwierigen Phase führt?

Das tut er – anders vielleicht als seine Vorgänger. Es wird an der Parteibasis anerkannt, dass Martin Schulz nicht Ansagen macht …

… sondern sich darauf beschränkt, Vorschläge zu sammeln?

Martin Schulz will die Leute überzeugen. Und die, die jetzt noch skeptisch sind, die kann man auch nur so für sich gewinnen. Ich schätze, ein Drittel der Delegierten ist noch unentschlossen.

Schulz hat sich zum Ziel gesetzt, die SPD von Grund auf zu reformieren. Kann das als Regierungspartei gelingen?

Ja. 2013 haben wir den großen Fehler gemacht, nur zu regieren – und die Erneuerung der Partei als kleinen Beipackzettel zu sehen. Das darf uns nicht noch einmal passieren.

Welche Rolle sehen Sie für Sigmar Gabriel, der als Außenminister zum beliebtesten Politiker im Land geworden ist?

Über Personal und Ministerien haben wir noch gar nicht geredet. Auch wenn in Berlin komische Listen kursieren: Darüber gibt es noch keinerlei Vereinbarungen.