Washington. Der ukrainische Präsident Selenskyj warb mit einer Rede bei den Vereinten Nationen für einen unnachgiebigen Kampf gegen Russland.

Bittsteller mit leeren Händen, das wollte Wolodymyr Selenskyj bei seinem ersten Live-Auftritt vor den Vereinten Nationen seit dem russischen Überfall auf sein Land nicht sein. Kurz bevor der ukrainische Präsident am Dienstagabend deutscher Zeit vor der UN-Generalversammlung in New York im olivfarbenen Polo-Shirt ans Redenerpult trat, verfügte er die Entlassung von sechs Vize-Chefs seines unter Korruption- und Verschwendungsverdachts stehenden Verteidigungsministeriums.

Eine Geste mit Fußnoten-Charakter angesichts des großen Ganzen, das den 45-Jährigen in Begleitung seiner Frau Olena in dieser Woche in die Vereinigten Staaten und Kanada führt. 19 Monate nach Beginn des von Wladimir Putin orchestrierten Angriffskrieges, der nach Worten von UN-Generalsekretär Antonio Guterres weltweit ein „Geflecht des Horrors nach sich zieht”, spürt Selenskyj erste Schleifspuren bei der Unterstützung der von Amerika angeführten Weltgemeinschaft im Kampf gegen den imperialen Widersacher.

Russischer Angriffskrieg: Joe Biden will die Ukraine weiter unterstützen

Dabei klang US-Präsident Joe Biden ganz am Ende seiner Rede zum Auftakt der 78. UN-Generaldebatte entschieden: „Russland glaubt, dass die Welt ermüdet und zulassen wird, dass die Ukraine ohne Konsequenzen brutal missbraucht wird”, sagte der 80-Jährige. „Aber ich frage Sie: Wenn wir die Grundprinzipien der UN-Charta aufgeben, um einen Angreifer zu besänftigen, kann dann irgendein Mitgliedsstaat sicher sein, dass er geschützt ist? Wenn wir die Aufteilung der Ukraine zulassen, ist dann die Unabhängigkeit irgendeines Landes gesichert? Die Antwort ist: Nein. Wir müssen dieser nackten Aggression heute die Stirn bieten, um morgen andere potentielle Aggressoren abzuschrecken. Deshalb werden die Vereinigten Staaten zusammen mit unseren Verbündeten und Partnern auf der ganzen Welt weiterhin an der Seite des tapferen Volkes der Ukraine stehen, wenn es seine Souveränität und territoriale Integrität – und seine Freiheit – verteidigt.“ So weit die politische Prosa.

Erstmals seit Beginn des Krieges gegen sein Land sprach der ukrainische Präsident Selenskyj am Hauptsitz der Vereinten Nationen.
Erstmals seit Beginn des Krieges gegen sein Land sprach der ukrainische Präsident Selenskyj am Hauptsitz der Vereinten Nationen. © Michael Kappeler/dpa

Der inner-amerikanische Terminkalender, den Selenskyj kennt, sieht anders aus. Das Präsidenschaftswahljahr 2024 naht. Und die Vorbehalte der Republikaner, Kiew über die bereits gezahlten 115 Milliarden Dollar plus x (davon 40 Mrd. nur für Militärisches) weitere Hilfen zukommen zu lassen, schwindet. Eine erste Bewährungsprobe kommt bald. Biden hat dem Kongress ein weiteres Unterstützungspakte im Volumen von 24 Milliarden Dollar vorgelegt.

USA: Zustimmung in der Bevölkerung zu Militärhilfen schwindet

Auf Seiten der Konservativen, wo sich der favorisierte Kandidat Donald Trump zum Sprachrohr der Anti-Ukraine-Fraktion gemacht hat, wird dagegen offen rebelliert. Auch mit Verweis auf Meinungsumfragen, wonach knapp über die Hälfte der Amerikaner der Auffassung ist, es reiche allmählich. Statt immer neue Militärhilfen in einen Abnutzungskrieg mit ungewissem Ausgang zu stecken, wird vom Weißen Haus erwartet, dass es Druck auf Selenskyj ausübt, in Friedensverhandlungen inklusive Gebietsverzichts zugunsten Russlands einzutreten. Davon will die Biden-Regierung nichts wissen und beteuert: Über den Kopf Selenskys hinweg werde nichts entschieden.

Allerdings wissen Bidens Berater, dass diese Position immer schwerer aufrecht zu erhalten ist, je länger der Krieg auf der Stelle tritt. Und je öfter die auch unter Demokraten schleichend mehrheitsfähig werdende Meinung vertreten wird, Amerika habe von der illegalen Einwanderung an der Grenze zu Mexiko über die nach wie vor hohen Lebenshaltungskosten bis hin zur Konfrontation mit China genügend andere teure Baustellen.

Wolodymyr Selenskyj: Ukrainischer Präsident warnt eindringlich vor Putin

In seiner von Beifall zum Auftakt begleiteten Rede warf Selenskyj Kreml-Herrscher Wladimir Putin vor, alles - von Getreide-Transporten über Energie-Lieferungen bis zur Entführung zehntausender ukrainischer Kinder - „zur Waffe zu machen” und die Welt damit ingesamt einem „finalen Krieg” näher zu bringen. Schon heute seien die Auswirkungen von Europa bis Afrika und Asien zu spüren. Putins Ziel sei es, die Ukraine zu vereinnahmen und als Waffe gegen die westlichen Anrainer-Staaten in Europa in Stellung zu bringen.

Schon darum dürfe der Kampf gegen den Aggressor nicht nachlassen. Selenskyj verzichtete auf konkrete Waffenforderungen. Stattdessen arbeitete er das Argument der globalen Bedrohung heraus: Wer Putin in der Ukraine gewähren ließe, öffne das Tor zur nächsten Invasion und damit zum Dritten Weltkrieg. „Dem Bösen”, sagte Selenskyj, „kann man nicht trauen. Fragen Sie Prigoschin.”

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verfolgt die Reden bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verfolgt die Reden bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung. © Michael Kappeler/dpa

Selenskyj trifft im US-Senat auch auf kritische Republikaner

Auf das wachsende Unbehagen aus Südamerika, Afrika und Asien ging er nicht näher ein. Dort sehen viele Staaten ihre um Hunger, Armut und Migration kreisenden Probleme ins Abseits geschoben, seit sich der Westen auf die Hilfe der Ukraine gegen den Aggressor Russland konzentriert. Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sprach von „Ermüdungserscheinungen”. Selenskyj hingegen betonte kategorisch, dass Russland sich auf sein eigenes Territorium zurückziehen müsse.

Nach New York reist der ukrainische Präsident weiter nach Washington. Dort steht neben einem erwarteten Wohlfühl-Teil mit Joe Biden eine Zusammenkunft mit allen 100 Senatoren an. Dort ist die Skepsis gegenüber weiteren Milliarden-Zahlungen an Kiew nicht so ausgeprägt wie im Repräsentantenhaus. Aber die kritischen Stimmen, die im Gleichklang mit den isolationistischen Parolen Donald Trumps eine Drosselung des amerikanischen Engagements für die Ukraine fordern, werden auch dort lauter.