Vilnius/Brüssel. Beim Nato-Gipfel geht es um den Beitritt der Ukraine: Wie schnell könnte das gehen? Und was heißt das für Deutschland? Ein Überblick.

Schicksalstage für die Ukraine: Beim Nato-Gipfel in Vilnius entscheidet sich, wie schnell die Ukraine unter den sicheren Schutzschirm der Nato kommen darf. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert mit großem Nachdruck eine schnelle Zusage. Müssen bald auch deutsche Soldaten für die Ukraine gegen Russland kämpfen? Moskau droht bereits mit einer „harten Antwort“. Worum es geht, was jetzt passiert, wieso es Streit gibt. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Wird die Ukraine Nato-Mitglied?

Sehr wahrscheinlich ja. Aber nicht jetzt, auf keinen Fall während des Krieges. Der Nato-Gipfel bekräftigte am Dienstag das Versprechen, dass die Ukraine Mitglied der Allianz werden kann, machte aber weiter keine zeitliche Zusage. „Die Zukunft der Ukraine ist in der Nato. Wir bekräftigen unsere auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest eingegangene Verpflichtung, dass die Ukraine ein Mitglied der Nato wird“, heißt es in der Erklärung. Eine förmliche Einladung zum Bündnisbeitritt wird es aber erst geben, „wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind“. Dazu zählen Reformen „im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors“.

Warum will die Ukraine unbedingt in die Nato?

Die Ukraine erhofft sich größtmögliche Sicherheit vor weiteren Angriffen Russlands. Denn die Nato-Staaten sind verpflichtet, bei einem bewaffneten Angriff gegen ein Mitgliedsland Beistand zu leisten. So sieht es Artikel fünf des Nato-Vertrags vor, der als Kernstück der Allianz gilt. Ein bewaffneter Angriff auf ein Nato-Land wird demnach stets „als ein Angriff gegen alle“ angesehen.

Würde Russland dann die Ukraine attackieren, drohte ihm ein Krieg auch mit den USA und anderen Atommächten. Ganz sicher ist das nicht, denn anders als oft angenommen kennt die Nato keine automatische militärische Beistandspflicht – jeder Mitgliedstaat entscheidet selbst, welche Hilfsmaßnahmen er ergreift. Einen Anspruch auf bewaffnete Hilfe gibt es nicht, darauf hatten zur Nato-Gründung 1949 vor allem die USA bestanden.

Wolodymyr Selenskyj drängt auf eine schnelle Aufnahme in die NATO.
Wolodymyr Selenskyj drängt auf eine schnelle Aufnahme in die NATO. © AFP | Oscar Del Pozo

Aus diesem Grund herrscht vor allem in den baltischen Staaten bis heute Unsicherheit, ob sie sich auf den Schutz der Nato im Ernstfall wirklich verlassen könnten. Bislang gilt jedoch: Russland hat es stets vermieden, sich mit der Nato anzulegen – und achtet nach Angaben von Nato-Militärs auch jetzt im Ukraine-Krieg sehr genau darauf, keinen Konflikt mit der Allianz zu provozieren.

Nato-Beitritt der Ukraine: Ist Deutschland dann im Krieg mit Russland?

Nur dann, wenn die Ukraine während des laufenden Ukraine-Krieges der Nato beitreten würde. Sicher wäre selbst das nicht, weil Deutschland nicht gezwungen wäre, aktiv militärischen Beistand zu leisten – aber der Druck wäre groß, dass auch die Bundeswehr mit ihren Soldaten gegen russische Angreifer kämpft. Auch unter Befürwortern eines schnellen Beitritts herrscht aber ganz überwiegend Einigkeit darüber, dass die Ukraine frühestens nach einem Waffenstillstand Mitglied der Allianz werden kann. Dass Russland nach einem Beitritt erneut angreift, gilt in der Nato als extrem unwahrscheinlich.

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Wie wird ein Land Nato-Mitglied?

Die Nato verfolgt eine „Politik der offenen Tür“ für Staaten in Europa, jeder Neuaufnahme müssen aber alle Mitgliedstaaten zustimmen. Laut Nato-Vertrag müssen Bewerber zur Sicherheit des Nato-Gebietes beitragen. Nach 1995 festgelegten Kriterien darf es keine laufenden Territorialkonflikte geben, die Bewerber müssen eine funktionierende Demokratie mit Marktwirtschaft sein, Minderheiten fair behandeln und bereit sein, einen militärischen Beitrag zu Nato-Operationen zu leisten. Außerdem muss das Militär demokratischer Kontrolle unterliegen.

Militärisch hat die Ukraine das Problem, dass der Großteil der Armee-Ausrüstung noch nicht kompatibel ist mit westlichen Waffen – nach Schätzungen ist erst ein Drittel auf Nato-Standard. Ein Land muss zunächst formell in die Nato eingeladen werden, dann beginnen Verhandlungen, die mit einem Zeitplan für notwendige Reformen enden können. Das kann wenige Jahre dauern, aber auch Jahrzehnte. Danach müssen alle Mitgliedstaaten das Beitrittsprotokoll ratifizieren.

Wie schnell kann die Ukraine Nato-Mitglied werden?

Unklar. Selenskyj und seine engsten Verbündeten forderten vergeblich, dass es sofort nach Ende der Kampfhandlungen zur Aufnahme kommt. Dagegen gab es aber Bedenken, unter anderem von Deutschland und den USA. Eine zentrale Frage ist, wie stabil eine Friedenslösung nach dem Ukraine-Krieg sein muss, damit der Westen in die volle Verantwortung geht.

Ein Kampfpanzer Leopard 2 der Bundeswehr bei einer Übung. Wenn die Ukraine Mitglied der Nato ist, gilt auch für Deutschland eine Beistandspflicht im Fall eines russischen Angriffs.
Ein Kampfpanzer Leopard 2 der Bundeswehr bei einer Übung. Wenn die Ukraine Mitglied der Nato ist, gilt auch für Deutschland eine Beistandspflicht im Fall eines russischen Angriffs. © dpa | Peter Steffen

Biden sagt, es werde für die Ukraine keine Abkürzung ins Bündnis geben: „Die Ukraine hat alles getan, um ihre Fähigkeit zur militärischen Koordinierung unter Beweis zu stellen, aber es stellt sich die Frage: Ist ihr System sicher? Ist es nicht korrupt? Erfüllt es alle Standards, die alle Nato-Staaten erfüllen?“ Es gebe keinen Automatismus.

Frankreich dagegen hat seine Meinung geändert und drängt nun auf eine zügige Aufnahme. Allerdings wird unter den Verbündeten gerätselt, was Präsident Emmanuel Macron im Sinn hat: Will er bloß Putin unter Druck setzen, an den Verhandlungstisch zu kommen – oder soll ein schneller Nato-Beitritt den Druck von der Europäischen Union nehmen, die Ukraine ebenfalls zügig aufzunehmen? Denn: Ein EU-Beitritt stößt in Paris weiter auf Widerstand.

Sind Sicherheitsgarantien ein Ersatz für den Nato-Beitritt?

Nur zeitweise, wenn man den offiziellen Erklärungen folgt. Die USA haben jetzt als erste Sicherheitszusagen in Aussicht gestellt, die den Schutz der Ukraine langfristig gewährleisten sollen, bis ein Nato-Beitritt erfolgt ist. So sind die USA etwa bereit, der Ukraine ausreichend moderne Waffen zu liefern, Geheimdienstinformationen mit ihr zu teilen und Cyberunterstützung zu leisten, damit sie sich selbst verteidigen und einen denkbaren Angriff abwehren kann. Ein Beistandsversprechen ist das nicht.

Präsident Biden denkt an Zusagen nach dem Modell Israel: Israel erhält jährlich US-Hilfen im Umfang von rund 3,8 Milliarden Dollar – zum erheblichen Teil für die Raketenabwehr und andere, hochmoderne Militärtechnik, die Israel die militärische Überlegenheit in der Region sichern soll. Alle zehn Jahre wird eine entsprechende Vereinbarung erneuert.

Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ist in Vilnius – und macht der Ukraine weitere Zusagen für Waffenlieferungen.
Auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ist in Vilnius – und macht der Ukraine weitere Zusagen für Waffenlieferungen. © AFP | ODD ANDERSEN

Auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien reden mit Kiew über ähnliche Zusagen. Allerdings hat die Ukraine mit solchen Garantien schlechte Erfahrungen gemacht: Die USA und Großbritannien waren neben Russland auch schon Garantiemächte beim Budapester Memorandum 1994, bei dem die Ukraine den Verzicht auf ihr Atomwaffen-Arsenal aus Sowjetzeiten erklärte und im Gegenzug Sicherheitsgarantien für ihre territoriale Unversehrtheit bekam – das bewahrte sie weder 2014 noch 2022 vor russischen Angriffen. Selenskyj sagt deshalb, die beste Sicherheitsgarantie sei die Nato.

Welche Zusagen bekommt die Ukraine von der Nato?

Mit mehreren Zusagen will die Nato signalisieren, dass die Ukraine dem Bündnis zumindest näher rückt. Als erstes wird es künftig einen Nato-Ukraine-Rat geben, in dem sich die Ukraine im Brüsseler Hauptquartier gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit den 31 Mitgliedern an einem Tisch abstimmen soll. Der Rat, ein Upgrade der bisherigen Nato-Ukraine-Kommission, soll in Vilnius erstmals tagen.

Zudem will die Nato den weiteren Beitrittsprozess verkürzen: Wenn die Einladung ausgesprochen wird, könnte auf einen eigentlich obligatorischen bürokratischen Aktionsplan zur Mitgliedschaft (MAP), dessen Umsetzung Jahre dauern kann, verzichtet werden. So war es auch im Fall Finnlands.

Bis zum Beitritt soll mit weiteren Waffenlieferungen und Ausbildung auch die Anpassung der ukrainischen Militärausrüstung an Nato-Standards vorangetrieben werden – bislang sind erst etwa ein Drittel der ukrainischen Waffen kompatibel mit westlicher Rüstung. Gleichzeitig will die Nato ein neues Unterstützungspaket beschließen. Auch wenn die Ukraine noch nicht Mitglied sei, rücke sie doch immer näher, sagt Stoltenberg.

Wie reagiert Russland?

Zu den erklärten Kriegszielen von Präsident Wladimir Putin zählte, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine dauerhaft auszuschließen. Entsprechend nervös reagiert Moskau auf die Entwicklung, der Kreml spricht von einer „absoluten Gefahr“ für Russland: „Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine hätte sehr, sehr negative Folgen für die gesamte Sicherheitsarchitektur in Europa, die bereits zur Hälfte zerstört ist“, erklärt Kremlsprecher Dmitri Peskow. Ein Beitritt der Ukraine hätte eine „harte“ Reaktion Moskaus zur Folge. Wie die „harte“ Antwort aussähe, bleibt offen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt