Brüssel/Berlin. Was ändert die EU-Asylreform für Deutschland? Wie gefährlich wird der Streit für die Grünen? Die fünf wichtigsten Fragen und Antworten.

Deutschland und die anderen EU-Staaten planen in der Asylpolitik einen härteren Umgang mit Flüchtlingen ohne Bleibeperspektive. Nach einem Kompromiss-Beschluss der EU-Innenminister soll es für einen Teil der Asylbewerber Eil-Verfahren an den Außengrenzen und schnelle Abschiebungen geben. Das sorgt in Deutschland für Streit bei den Grünen und Proteste von Migrationsverbänden. Andererseits setzen Politiker auf sinkende Flüchtlingszahlen.

Kommen jetzt weniger oder mehr Asylbewerber nach Deutschland?

Wahrscheinlich weniger, aber nicht gleich. Das Gesetz wird frühestens Anfang 2024 beschlossen, könnte dann bis 2025 in Kraft treten. Der Migrationsexperte Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin sagt unserer Redaktion: „Akut wird sich dieser Beschluss des EU-Rats nicht auswirken – weder an der EU-Außengrenze noch in deutschen Kommunen.“

Es werde mindestens drei Jahre dauern, bis die Grenzverfahren etabliert seien. Bis dahin seien viele rechtliche und praktische Fragen zu klären, so zu den Abkommen mit Drittstaaten etwa in Afrika, die abgelehnte Asylsuchende aufnehmen sollen.

Experten schätzen, dass in Deutschland allein wegen der Eil-Verfahren an den Außengrenzen zehntausende Asylanträge im Jahr weniger anfallen. Zudem müssen künftig alle Migranten zwingend schon bei der Einreise in die EU registriert und ihre Daten zentral gespeichert werden – die Weiterreise nach Deutschland oder Mehrfach-Asylanträge werden so erschwert. Die Reform dürfte insgesamt einen Abschreckungseffekt haben.

Andererseits ist Deutschland durch neue Solidaritätsregeln auch verpflichtet, Asylbewerber von Aufnahmeländern wie Italien und Griechenland zu übernehmen. Der Städte- und Gemeindebund stellt klar: „Im Moment hilft der Kompromiss gar nichts.“ Es werde Jahre dauern, bis er sich vor Ort auswirken werde.

Lesen Sie auch den Kommentar: Asylreform: Die Empörung bei den Grünen ist überzogen

Wie gefährlich wird der Streit für die Grünen?

Für keine andere der Ampel-Parteien ist der Beschluss so problematisch wie für die Grünen, die sich lange gegen neue Lager an den Außengrenzen gesperrt hatten. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb in einem Brief an die Bundestagsfraktion: „Der jetzt erreichte Kompromiss ist absolut kein einfacher“. Partei- und Fraktionsspitze zeigten sich öffentlich nicht nur zerknirscht, sondern auch gespalten. Baerbock und Vizekanzler Robert Habeck verteidigten die Einigung, ebenso Parteichef Omid Nouripour und Fraktionschefin Britta Haßelmann.

Dagegen beklagten Ricarda Lang (ebenfalls Parteichefin) und Katharina Dröge (ebenfalls Fraktionschefin), die Bundesregierung hätte dem Kompromiss nicht zustimmen dürfen. Die demonstrative Zerrissenheit mag auch ein Versuch sein, den Unmut großer Teile der Partei einzufangen.

Grünen-Migrationsexpertin Filiz Polat sagte unserer Redaktion, die Einigung sei „eine Verstetigung von Leid und Chaos“. Die Zustimmung sei nicht nur falsch, „sondern sie gefährdet Europa als Wertegemeinschaft“. Sie hofft jetzt auf Verbesserungen bei den weiteren EU-Verhandlungen. Reicht das, um die Partei zu beruhigen? Das wird sich am kommenden Wochenende beim Kleinen Parteitag der Grünen zeigen: An Widerspruch gegen die Position des Parteivorstands wird bereits gearbeitet.

EVP-Chef Manfred Weber kritisierte die Grünen für ihre ablehnende Haltung scharf. "Mit dieser grün-ideologischen Rechthaberei können wir Europa nicht zusammenhalten", sagte der CSU-Politiker dieser Redaktion. "Endlich sind wir auf dem Weg zu einem lang ersehnten und dringend nötigen Kompromiss." Auch die EVP wünsche sich mehr, sei aber bereit, Verantwortung für Europa zu übernehmen und diesen wichtigen Schritt mitzugehen. "Die Grünen wollen das offensichtlich nicht."

Kommen Flüchtlinge in Inhaftierungslager?

Wie die Asylzentren an den EU-Außengrenzen aussehen, ist unklar. In diese Lager sollen nach der ersten Vorprüfung jene Asylbewerber kommen, deren Herkunftsland vermuten lässt, dass ihr Antrag sehr wahrscheinlich abgelehnt wird. Ebenso festgehalten würden Menschen, die bei einem Täuschungsversuch ertappt werden.

Für diese Asylbewerber soll innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob ihr Antrag eine Chance hat. Wenn nicht, würden die Betroffenen innerhalb von drei Monaten zurückgeschickt – nicht nur in ihre Heimatländer, sondern unter bestimmten Bedingungen auch in andere Drittstaaten. Laut EU-Kommission ist eine Inhaftierung nur im Notfall geplant.

Auch die Bundesregierung versichert, es gehe nicht um Haftanstalten, die Regeln für Asyl-Unterkünfte würden eingehalten. Der Grünen-Migrationsexperte Erik Marquardt warnt dagegen vor „Massenhaftlagern“ in Griechenland oder Italien. Kann der Kompromiss noch scheitern? Eher wird er geändert.

Das endgültige Gesetz muss zwischen Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament ausgehandelt werden, eine Einigung soll Anfang 2024 stehen. Die Verhandlungen werden hart, das Parlament vertritt eine mildere Linie als die Innenminister. Die Vizepräsidentin des Parlaments, Katarina Barley (SPD) sagt, man werde eine „inhumane Flüchtlingspolitik“ verhindern. Die Bundesregierung will sich noch für einen stärkeren Schutz von Kindern stark machen.

Werden Länder, die keine Flüchtlinge nehmen, wirklich zahlen?

Erstmal wohl nicht. Der gesamte Solidaritätsmechanismus, mit dem die Erstaufnahmeländer vor allem am Mittelmeer entlastet werden sollen, ist kompliziert und nicht sehr stabil. Staaten, die keine Migranten übernehmen wollen, können sich teilweise von ihrer Verpflichtung freikaufen – mit einer Einmalzahlung von 20.000 Euro pro Person.

Das Geld soll in einen EU-Fonds für Migrationsprojekte fließen. Polen und Ungarn, die gegen die Reform gestimmt haben, lehnen das aber schon ab. Auch in Tschechien, Bulgarien und der Slowakei, die sich enthalten haben, gibt es Bedenken. EU-Kommissarin Ylva Johansson droht ihnen mit Krach: „Wenn das Gesetz in Kraft ist, gilt es alle Mitgliedstaaten.“

Warum warnen Kritiker vor dem neuen Kurs?

Menschenrechts- und Hilfsorganisationen sind empört. Pro Asyl etwa spricht von „einem Frontalangriff auf den Rechtsstaat und das Flüchtlingsrecht.“ Die Jahre seit der Flüchtlingskrise 2015 haben zwei Welten offenbart: Die Regeln, die sich die EU-Staaten geben – und die ganz andere Realität an den europäischen Grenzen.

Wurden Grenzen geschlossen, suchten sich die Migranten neue Routen. Organisierte Schleuserbanden halfen gegen viel Geld, unter Androhung auch von Gewalt. Zugleich war der Zugang zu fairen Asylverfahren an der EU-Grenze immer wieder versperrt. Kroatische und griechische Grenzbeamte sind dem Vorwurf ausgesetzt, Menschen zurückzudrängen ohne Asylverfahren.

Deshalb haben Fachleute Sorge, ob die Pläne der Europäischen Union überhaupt an der Grenze umgesetzt werden können. Schon jetzt scheitern Abschiebungen aus der EU in Heimatländer oder in Drittstaaten immer wieder. „Besonders brisant ist die Kooperation mit Staaten in der europäischen Nachbarschaft. Die vergangenen Jahre haben überdeutlich gemacht, wie rigoros autokratische Staaten Grenzkontrollen durchsetzen und dabei durch die EU unterstützt werden“, sagt Migrationsexperte Bossong. Die Bundesregierung hat schon sogenannte Rücknahmeabkommen mit Staaten wie Marokko, mit Georgien oder Albanien abgeschlossen. Aber der Migrationsdruck aus den Ländern ist weiterhin hoch.