Berlin. Russland wirft der Ukraine einen versuchten Anschlag gegen Putin vor. Was steckt dahinter? Droht eine weitere Eskalation im Krieg?

Im Ukraine-Krieg droht kurz vor der angekündigten ukrainischen Offensive eine unerwartete Eskalation: Russland wirft der Ukraine einen versuchten Terroranschlag auf Präsident Wladimir Putin in Moskau vor und kündigt Vergeltung an. Was bislang bekannt ist, warum die Entwicklung so alarmierend ist – und wieso Präsident Wolodymyr Selenskyj in großer Gefahr schwebt.

Angeblicher Anschlag auf Putin: Was ist nach Russlands Darstellung passiert?

Nach Angaben der russischen staatlichen Nachrichtenagentur Tass soll sich der Angriffsversuch auf den Kreml, die russische Regierungszentrale, in der Nacht zu Mittwoch ereignet haben. Demnach haben Militär und Spezialkräfte des Staatssicherheitsdienstes zwei ukrainische Drohnen mit einem elektronischen Abwehrsystem außer Gefecht gesetzt. Aufnahmen, die in sozialen Netzwerken kursierten, sollen zeigen, wie eine Drohne auf dem Gelände des Kreml einschlägt, Rauchwolken aufsteigen und der Gebäudekomplex später als Sicherheitsmaßnahme verdunkelt wurde.

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Der Kreml erklärte in einer Mitteilung: „Wir betrachten diese Handlungen als einen geplanten Terrorakt und Anschlag auf das Leben des Präsidenten der Russischen Föderation“. Weiter hieß es: „Die russische Seite behält sich das Recht vor, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wo und wann sie es für angebracht hält.“ Laut Kreml-Erklärung blieb Putin unverletzt, auch andere Opfer hat es demnach nicht gegeben. Der Arbeitsplan des Präsidenten habe sich nicht geändert und gehe wie gewohnt weiter, so die Mitteilung. Die Stadtverwaltung kündigte an, dass sämtliche Drohnenflüge über Moskau verboten würden.

Vorwürfe aus Russland: Wie reagiert die Ukraine?

Die ukrainische Regierung bestreitet, hinter dem angeblichen Angriff zu stecken. „Natürlich hat die Ukraine nichts mit den Drohnenangriffen auf den Kreml zu tun“, sagte Mykhailo Podoliak, ein Berater von Wolodymyr Selenskyj, in einer Erklärung. „Solche von Russland inszenierten Äußerungen sollten nur als Versuch betrachtet werden, einen Kontext vorzubereiten“, der als Vorwand „für einen großen Terroranschlag in der Ukraine“ dienen könnte, so Podoliak.

Ein derartiger Angriff würde für die Ukraine „kein militärisches Problem lösen“, aber Russland zu noch radikaleren Aktionen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung aufstacheln. Hinter den Drohnen über dem Kreml-Territorium könnte beispielsweise auch eine Widerstandsgruppe aus dem Untergrund stecken, sagte Podoljak weiter: „Irgendwas geht in Russland vor sich, jedoch ohne Drohnen der Ukraine über dem Kreml“.

Russlands Präsident Wladimir Putin.
Russlands Präsident Wladimir Putin. © Mikhail Klimentyev/Sputnik Kremlin/AP/dpa

Vermeintlicher Anschlagsversuch: Wie glaubhaft ist der russische Vorwurf?

Es war zunächst nicht eindeutig zu klären, ob der Angriff tatsächlich stattgefunden hat, wer dahinter steckt oder ob es sich um eine Inszenierung Russlands handelt – mit dem Ziel, einen Vorwand für eine neue Eskalation zu haben, am Ende auch für den Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Technisch wäre die Ukraine wohl zu einem solchen Angriff in der Lage, strategisch wäre er aber sehr riskant. Politisch wäre er mit Blick auf die westlichen Verbündeten höchst unklug.

Der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Stefan Meister, sagte unserer Redaktion: „Ich schließe nicht aus, dass die Drohnenattacke auf den Kreml von ukrainischen Kräften ausgeführt wurde. Wahrscheinlicher ist für mich aber, dass es sich um eine Desinformations-Kampagne der Russen handelt.“

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Die Ukraine solle damit des Staatsterrorismus bezichtigt werden, so Meister. „Möglicherweise soll mit diesem Vorwand eine größere Offensive auf Kiew, noch brutalere Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung oder gar ein Versuch der Tötung des ukrainischen Präsidenten gerechtfertigt werden.“ Wäre wirklich ein Attentat auf Selenskyj geplant, würde dies seine Gefährdung beim geplanten Berlin-Besuch am übernächsten Wochenende noch einmal deutlich erhöhen.

Vorwürfe aus Russland: Wie gefährlich ist die Entwicklung?

Auf jeden Fall sehr gefährlich. Sollte die Ukraine die russische Hauptstadt angegriffen haben, was nicht wahrscheinlich ist, wäre das eine neue Qualität im Ukraine-Krieg, die im Westen Besorgnis auslösen müsste. Bislang waren Angriffe der Ukraine auf das russische Kernland und erst auf die Hauptstadt Moskau tabu, entsprechend wurden auch die westlichen Waffenlieferungen zusammengestellt; die Ukraine erhielt keine Waffen mit großer Reichweite.

Der Moskauer Kreml, die russische Regierungszentrale. Russland hat der Ukraine einen versuchten Anschlag auf Kremlchef Putin vorgeworfen und mit Gegenmaßnahmen gedroht.
Der Moskauer Kreml, die russische Regierungszentrale. Russland hat der Ukraine einen versuchten Anschlag auf Kremlchef Putin vorgeworfen und mit Gegenmaßnahmen gedroht. © dpa | Uncredited

Ein Drohnenangriff auf Moskau, der Putin töten sollte, wäre eine schwere Provokation für Russland – und auch ein Zeichen dafür, dass sein Luftraum nicht ausreichend geschützt ist. Steckt die ukrainische Armee nicht hinter dem Vorfall, war auch keine Untergrund-Organisation verantwortlich und handelt es sich also um russische Desinformation, ist dies keine Entwarnung: Dann sucht Putin offenbar einen Vorwand, um den Waffeneinsatz im Krieg gegen die Ukraine zu eskalieren.

Schon vor zehn Tagen hatte es unbestätigte Berichte gegeben, laut denen die Ukraine versucht haben soll, einen Drohnenangriff auf Putin durchzuführen. Damals ging es um einen Industriekomplex bei Moskau, wo Putin vermutet worden sei – die Kamikaze-Drohne soll aber etwa 20 Kilometer vor ihrem Ziel abgestürzt sein. Diese Meldungen waren damals für unglaubhaft gehalten und wenig beachtet worden. Belege gab es keine.

Ukraine-Krieg: Aber die Ukraine greift doch mit Drohnen an?

Experten befürchteten schon vor den jüngsten Ereignissen, dass Putin in Bedrängnis als erstes Chemiewaffen einsetzen würde – auch bei der Abwehr der erwarteten ukrainischen Offensive. Der Vorsitzende des russischen Unterhauses, Wjatscheslaw Wolodin, rief am Mittwoch dazu auf, die Regierung in Kiew zu „vernichten“: „Wir werden den Einsatz von Waffen fordern, die in der Lage sind, das terroristische Regime in Kiew aufzuhalten und zu vernichten“.

In den vergangenen Tagen häufen sich zwar die Angriffe auf russisch besetztes Territorium, sie haben aber alle ein eindeutiges Ziel: Sie sollen die angekündigte ukrainische Gegenoffensive vorbereiten. So erklärte die ukrainische Armee selbst, dass sie in der der russisch besetzten Hafenstadt Sewastopol am Samstag ein großes russisches Treibstofflager mit Drohnen angegriffen und in Brand gesetzt habe.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Auch in der Nacht zu Mittwoch griffen Drohnen Ziele auf und in der Nähe der Krim an. In der Nähe der Krim-Brücke geriet ein Treibstofflager in Brand. Die Ukraine übernahm nicht direkt die Verantwortung für diesen Vorfall, aber der Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Andriy Chernyak, sagte: „Natürlich muss der Feind von der Krim abgeschnitten werden.“

Sabotageakte häufen sich aber auch auf russische Infrastruktur und Nachschublinien. In der russischen Grenzregion Brjansk entgleiste am Dienstag erneut ein Güterzug nach einer Explosion. Bereits am Montag waren in derselben Region rund 20 Waggons eines Zuges aus den Gleisen gesprungen, nachdem Unbekannte die Schienen gesprengt hatten. Ob hinter den Vorfällen ukrainische Spezialkräfte stecken oder russische Saboteure, ist unklar. Die Ukraine hat bislang nie die Verantwortung für Angriffe auf anerkannt russisches Territorium übernommen.