Braunschweig. Arzneimittelimporteure sehen Hersteller als Hauptschuldige. SPD-Experte Lauterbach fordert Gesetz für Versorgungssicherheit.

Ich bin Krebspatientin und auf Medikamente angewiesen, um durch die Nächte zu kommen. Das Schmerzmittel, das ich benötige, ist von meiner Apotheke nicht mehr zu beschaffen. Dass ich mich mit solchen Problemen herumschlagen muss, macht mich wütend, weil ich meine Kraft jetzt eigentlich dringend für anderes bräuchte.

Dies schreibt uns unsere Leserin Christine Schildt aus Velpke.

Zum Thema recherchierten Andreas Eberhard und Beate Kranz.

Als der Krebs 2016 zurückkam, hatte Christine Schildt schon mit ihrem Leben abgeschlossen. Der besiegt geglaubte Brustkrebs hatte Metastasen im Knochengerüst gebildet. Unheilbar. Dass sie heute, drei Jahre später, noch lebt, und trotz aller Einschränkungen sogar mit einer gewissen Lebensqualität, verdankt die Frau aus Velpke im Landkreis Helmstedt der modernen Medizin. „Momentan habe ich Ruhe“, sagt sie, „das Krebswachstum ist vorläufig gestoppt. Aber ich lebe ganz im Hier und Heute“. Von entscheidender Bedeutung dafür, dass sie „über die Runden“ kommt, ist die Schmerztherapie. Rund zwei Jahre lang nahm sie das starke Opiat Dolantin. Es half ihr, schmerzfrei durch die Nächte zu kommen. Bis ihr Apotheker ihr vor sechs Wochen mitteilte: Das Mittel ist nicht mehr verfügbar.

Unverträgliche Ersatzmedikamente

„Natürlich haben sich meine Ärzte sehr bemüht und Ersatzmedikamente für mich rausgesucht“, berichtet die 69-Jährige. „Aber das Ergebnis war, dass ich die überhaupt nicht vertrug und einige schlimme Nächte hatte.“ Mittlerweile sei es ihrem Apotheker gelungen, ein anderes Mittel mit dem Dolantin-Wirkstoff Pethidin zu besorgen. Allerdings sei auch das schwer zu beschaffen. Die Apotheke könne immer nur kleine Mengen bestellen und man wisse nie, ob es mit der nächsten Lieferung klappe.

„Ich will einfach wissen, was los ist“, resümiert die Velpkerin im Gespräch mit unserer Zeitung. Auf die Frage, woher die Engpässe stammten, hätten Ärzte und Apotheker nur mit den Schultern gezuckt. „Niemand nennt einen Grund.“ Noch gehe es ihr den Umständen entsprechend gut, doch die Ungewissheit mache ihr zu schaffen. „Dass ich mich jetzt mit solchen Problemen herumschlage, macht mich wütend“, sagt sie. „Schließlich bräuchte ich meine Kraft jetzt eigentlich dringend für anderes.“

Pharmaunternehmen stellen zu wenige Medikamente her

Seit Monaten fehlen in Deutschland immer wieder einzelne Arzneimittel – Schmerzmittel, Blutdrucksenker, Antidepressiva oder Antibiotika. Aktuell sind 284 Lieferengpässe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gemeldet. Das von Christine Schildt benötigte Mittel steht nicht auf der Liste, die laufend aktualisiert wird.

Die Arzneimittel-Engpässe bedeuten allgemein nicht, dass Patienten nicht mehr behandelt werden. Denn für die meisten Medikamente gibt es unter den 103.000 zugelassenen Produkten ein ähnlich wirkendes Präparat eines anderen Herstellers. Dennoch steigt die Zahl der Lieferengpässe seit Jahren. Nach Ansicht der Arzneimittelimporteure sind die Hersteller der Hauptgrund für die Misere. „Die Pharmahersteller verursachen die Knappheit, weil sie zu wenig Medikamente herstellen und auf den Markt bringen“, sagt Jörg Geller, Chef des größten deutschen Pharmahändlers Kohlpharma. Er ist Vorstand des Verbands der Arzneimittel-Importeure Deutschlands (VAD) und Präsident des europäischen Dachverbands EAEPC. Viele Hersteller, so Geller, schotteten durch Quotierungen und Rabattverträge die Märkte zusätzlich ab: „Manche Produzenten schließen sogar ganze Länder von der Belieferung aus, weil ihnen dort die Verkaufspreise zu niedrig sind. Dadurch wird künstlich eine Knappheit erzeugt.“ Eine Nachfrage unserer Zeitung nach den Gründen der Engpässe beim Mittel Dolantin konnte der Hersteller Sanofi-Aventis, am Freitag nicht kurzfristig beantworten.

Rabattverträge zwischen Kassen und Pharmafirmen

Unsere Leserin vermutet die Hauptursache der Engpässe vor allem in den Rabattverträgen, die gesetzliche Krankenkassen mit den Arzneimittelherstellern abschließen. Die Rabattverträge funktionieren so: Um Geld zu sparen, ermitteln die Kassen im Voraus den voraussichtlichen Arznei-Bedarf der bei ihnen Versicherten und unterzeichnen mit einzelnen Herstellern exklusive Lieferverträge zu niedrigeren Preisen. Auf dieser Grundlage kalkulieren die Pharmafirmen vorab die Mengen, die sie produzieren. Seit Mitte der Nullerjahre, als die Bundesregierung mit mehreren Gesetzen mehr Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit bei der Arzneimittelversorgung zu schaffen versuchte, wird so verfahren.

Verlagerung der Produktion in Schwellenländer

Der harte Preiswettbewerb durch die Rabattverträge hat dazu geführt, dass die Hersteller ihre Produktionen in Schwellenländer verlagern, die nicht über die westlichen Produktions- und Sicherheitsstandards verfügen und für Produktionsprobleme anfällig sind – etwa nach Indien oder China. „Entspricht eine Charge nicht den hohen Qualitätsstandards für den europäischen Markt, wird sie für den Import gesperrt. Dann kommt es in Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union schnell zu einem Engpass“, heißt es in einer Mitteilung der Apothekerkammer Niedersachsen. Wird eine Charge aus dem Verkehr gezogen, kann es mitunter relativ lange dauern, bis eine neue produziert wird. Geringe Lagerkapazitäten, sogenanntes Just-in-time-Management, aber auch die Konzentration auf wenige Zulieferer verschärfen das Problem laut den Apotheken noch.

Der Markt ist „buchstäblich leergekauft“

Dr. Michael Verhoeven, Inhaber der Hagenmarkt-Apotheke in Braunschweig, kennt die Auswirkungen bestens aus seinem Arbeitsalltag. „Wir können den Patienten mitunter kaum noch erklären, warum wir das gewünschte Arzneimittel nicht liefern können“, bestätigt er die Erfahrung unserer Leserin. Von manchen Mitteln sei der Markt „buchstäblich leergekauft“.

Auf Bitte unserer Zeitung schaut er nach, ob Dolantin verfügbar ist: „Ja, momentan schon. Allerdings kann ich gerade nur drei Packungsgrößen bestellen – im Handel sind eigentlich sieben.“ Gerade größere Packungen seien nicht verfügbar. „Auch wenn ich das Schmerzmittel momentan also besorgen könnte, muss man hier sagen: Die Tendenz zum Engpass ist da.“ Längst seien auch Standardarzneimittel nicht mehr durchgängig vorrätig. „Dabei müsste das aus meiner Sicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.“ Während die Knappheit bei manchen Mitteln nur wenige Tagen anhält, dauert sie bei anderen bis zu ein halbes Jahr lang an.

„Das Abschließen von Rabattverträgen wurde in den letzten zehn Jahren auf immer mehr Arzneimittel ausgeweitet“, erklärt Verhoeven. „Es wurde immer weiter an der Kostenschraube gedreht, so dass heute die Versorgungssicherheit gefährdet ist. Der Bogen wurde schlicht überspannt.“ Deutschland sei längst nicht mehr die Apotheke der Welt, stellt auch Pharmaimporteur Geller fest. Manche Medikamente – wie Ibuprofen – würden mittlerweile so billig verkauft, dass sich die Herstellung kaum mehr lohne. Deshalb werden sie weltweit knapp.

Lauterbach fordert strengere Anforderungen per Gesetz

Wie der Importeur Geller, so sieht auch der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, die Hersteller als Hauptschuldige. „Die Pharmaunternehmen kalkulieren zu knapp und nehmen Engpässe billigend in Kauf, um am Ende daraus noch Gewinne zu schlagen. Verlierer sind die Patienten, Versicherten und Ärzte, die unter der problematischen Versorgungslage leiden und durch Zuzahlungen zur Kasse gebeten werden.“

Von der Politik fordern die Importeure deshalb strengere Anforderungen an die Hersteller. „Der Druck auf die Hersteller muss erhöht werden.“ Ziel müsse es sein, dass die Firmen die notwendige Menge an Medikamenten produzieren, damit die Warenversorgung in Europa wieder funktioniere. Dazu gehöre die Pflicht für eine längere Lagerreichweite und die Auflage, Knappheit frühzeitig zu melden. „Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein so reiches Land wie Deutschland mit Arzneimittelknappheit kämpfen muss“, meint Geller.

Lauterbach fordert ein Gesetz, um Engpässe zu vermeiden. „Schon im Rahmen der Rabattverträge müssten Sanktionen vereinbart werden, sollten Lieferungen nicht eingehalten werden.“ Komme es zu Umstellungen, müsse die Preisdifferenz vom Hersteller bezahlt werden, dessen Medikament nicht verfügbar ist. „Es darf nicht weiterhin so sein, dass Patienten bei Engpässen zuzahlen müssen, während die Hersteller dafür nicht zur Kasse gebeten werden.“ Für Medikamente und Wirkstoffe, bei denen immer wieder Engpässe auftauchen, sollte die Produktion am besten nach Deutschland zurückverlagert werden, so Lauterbach: „Ohne Gesetz verändert sich hier nichts.“

Apotheker: Produktion zurück nach Europa verlagern

Auch die niedersächsischen Apotheker fordern, die Wirkstoffproduktion müsse wieder stärker in Europa stattfinden, damit die hiesigen Qualitätsstandards eingehalten werden. „Ebenso sollten mehr Sicherheitspuffer in Planung, Herstellung, Lagerung und Transport von Arzneimitteln eingeplant werden“, heißt es in der Mitteilung der Apothekerkammer. „Das aktuelle Preisdumping führt zu einer gefährlichen Konzentration auf wenige, große Anbieter, deren Konsequenzen am Ende der Patient trägt.“

Angesichts der angespannten Lage rät der Braunschweiger Apotheker Verhoeven betroffenen Patienten dringend, das Gespräch mit ihren Apothekern zu suchen. „Ihrer Leserin würde ich empfehlen, mit ihrer Stammapotheke zu klären, ob diese das Produkt nicht in etwas größerer Menge – für einen mehrmonatigen Bedarf – lagern kann.“ Voraussetzung hierfür ist natürlich, das das Arzneimittel überhaupt haltbar und lagerfähig ist. In manchen Fällen sei es auch möglich, die gewohnten Dosierungsgrößen – in Absprache mit dem Arzt – durch andere zu ersetzen. „Trotzdem muss man leider sagen: Es ist ein Spiel auf Zeit, denn auch hier ist der Markt irgendwann leergekauft.“

Apotheker: Therapie hat Vorrang

Patienten, die regelmäßig Medikamente einnehmen, sollten frühzeitig und nicht kurz vor der letzten Tablette die Folgerezepte ausstellen lassen und in der Apotheke vorlegen, rät die Apothekerkammer allgemein. So habe der Apotheker ausreichend Zeit, das gewünschte Medikament beim Großhandel oder beim Hersteller nachzufragen. Höchste Priorität habe, dass die Therapie des Patienten nicht unterbrochen werde.

Während die Apothekerkammer keine dramatischen Folgen des näherrückenden Austritts Großbritanniens aus der EU fürchtet, könnte der Brexit laut Geller die Knappheit 2020 noch verschärfen. „Wir befürchten, dass wir nach dem Brexit nicht mehr in Großbritannien Medikamente einkaufen können.“ Gleichzeitig könne Großbritannien aber weiter in der EU Medikamente einkaufen. „Dann ist der Markt schnell im Ungleichgewicht.“