Marienborn. Die Landtagspräsidentinnen Gabriele Brakebusch (Sachsen Anhalt) und Gabriele Andretta (Niedersachsen) im Doppelinterview zum Tag der Deutschen Einheit.

Frau Gabriele Andretta (SPD) und Frau Gabriele Brakebusch (CDU), die beiden ersten Bürgerinnen der Länder Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sind bereit zu einem Gespräch zum Tag der Deutschen Einheit in der Gedenkstätte Marienborn. Für Frau Brakebusch ist es ein ganz kurzer Weg, für die Landtagspräsidentin aus Hannover etwas weiter. Wir werden über Grenzerfahrungen sprechen.

Wie selbstverständlich ist eigentlich für Sie als „Nachbar-Präsidentinnen“ die Begegnung im Alltag? Wie oft sehen Sie sich?

Brakebusch: Eigentlich sehr selten. Wir haben aber auch die gemeinsamen Treffen über die LPKs (Konferenz der Landtagspräsidenten, die Red.); ich würde unseren Kontakt gerne auch darüber hinaus vertiefen.

Andretta: Wir haben uns auf der Präsidentenkonferenz im Juni in Weimar kennengelernt. Wir sind ja beide noch nicht sehr lange in diesem Amt, aber die ersten Frauen und das verbindet uns.

Was verbinden Sie im Jahr 2018 mit der innerdeutschen Grenze? Wir sind an einem Ort, an dem man bis heute erleben kann, was deutsche Teilung bedeutet, wie Menschen voneinander getrennt wurden. Was bedeutet es Ihnen, heute hier zu sein?

Brakebusch: Auch nach so vielen Jahren ist das für mich immer noch ein Gottesgeschenk, dass wir den Wegfall der innerdeutschen Grenze erleben durften. Ich wohne inzwischen 45 Jahre hier im Grenzgebiet – im ehemaligen Grenzgebiet. Heute verbindet die Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt zwei Bundesländer miteinander, aber heute ist es ein Leichtes, diese Grenze zu überschreiten. Wenn wir von Helmstedt nach Harbke rüberfahren denken wir dennoch: Hier war mal die trennende Grenze. Das bleibt in den Köpfen meiner Generation. Wir haben gedacht, die Grenzöffnung kommt nie in unserem Leben, aber sie ist tatsächlich gekommen.

Frau Andretta, Sie kommen aus Göttingen, eigentlich aber aus dem Südwesten Deutschlands…

Andretta: Ich bin erst zum Studium nach Göttingen gekommen. Aufgewachsen bin ich in Rheinland-Pfalz, in der Grenzregion zu Frankreich und Luxemburg. Die deutsche Teilung, der 17. Juni 1953, der Mauerbau – all das war nicht Teil meiner Familienbiografie. Ich bin Jahrgang 1961. Die Teilung Deutschlands war für mich etwas Abstraktes, eine Doppelstunde im Politikunterricht.

Aber auch Sie haben die innerdeutsche Grenze erlebt, Sie sind nach Westberlin gereist…

Andretta: Ja, später als Studentin in Göttingen. Die Fahrt in einem alten Käfer auf der Transitautobahn A2 nach Westberlin glich immer einer kleinen Abenteuerreise. Man passierte die Grenze am Übergang Helmstedt/Marienborn, machte einen Stopp an der Mitropa Raststätte, ging in Ostberlin in den Buchladen, um die blauen Bände einzukaufen. Die DDR war für uns Studenten der sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat. Er hatte für uns nichts Bedrohliches, mit Stasi-Machenschaften hatten wir keine Berührung. Kontakte mit DDR-Bürgern gab es während solcher Ausflüge nicht, so dass wir von familiären Schicksalen wenig wussten. Der Blick auf die DDR änderte sich erst mit der Maueröffnung. Bis da-hin lebte man wenige Kilometer voneinander getrennt und trotzdem in zwei verschiedenen Welten. Die Erfahrung, durch Grenzen getrennt zu sein, nicht frei reisen zu können, war eine fremde. Ich bin an der Grenze zu Frankreich und Luxemburg großgeworden, da fuhr man am Wochenende nach Luxemburg zum Schlittschuhlaufen oder ins Elsass zum Wandern, in den Sommerferien mit dem Interrailticket durch Südeuropa. Ich wäre damals nie auf die Idee gekommen, in die DDR oder ein osteuropäisches Land reisen zu wollen. Man reiste ja aus dem Westen viel eher nach Frankreich oder nach Spanien oder Skandinavien, als dass man sich bemüht hätte, in die DDR zu kommen oder weiter östlich.

Die Landtagspräsidentinnen im Doppelinterview

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    Wieviel dieser alten Trennung ist für Sie noch spürbar? Und wieviel Gemeinsamkeit ist gewachsen?

    Brakebusch: Es sind durchaus viele westdeutsche Besucherinnen und Besucher in der DDR gewesen; denn es gab ja den „kleinen Grenzverkehr“, der in den 70er Jahren massiv erleichtert wurde. Auch ist hier nicht nur die innerdeutsche Grenze zu betrachten sondern insbesondere die „Fünf-Kilometer-Zone“, der sog. Grenzstreifen. Ich selber stamme nicht aus Harbke, ich bin nicht im Grenzgebiet geboren und aufgewachsen. Ich stamme aus Kloster Gröningen, da war die Grenze weit weg. Durch Heirat bin ich in das Grenzgebiet gekommen. Von da an konnte mich meine Familie nur noch in Teilen zu Hause besuchen. Meine Eltern, mein Bruder und meine Schwester durften kommen. Die Ehepartner schon nicht mehr. Meine erste Nacht in Harbke war 1973. Ich erinnere mich noch gut, dass ich damals des Nachts aufwachte und meinen Mann fragte: Habt ihr Wölfe hier? Die jaulen ja die ganze Nacht. Mein Mann antwortete: Das sind keine Wölfe, das sind die Kettenhunde der DDR- Grenzsicherungstruppen. So gerne ich manchmal alles wegwischen würde…das kann ich nicht.

    Wieviel Verbindendes ist seit der Einheit gewachsen? Und wie erleben Sie, Frau Andretta, die Gemeinsamkeiten zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, auch auf der persönlichen Ebene?

    Andretta: Demnächst ganz hautnah. Meine Tochter wird in Halle ihr Chemiestudium beginnen. Mein Sohn studiert ebenfalls in Ostdeutschland, in Leipzig. Meine Generation hatte vielleicht noch Mauern im Kopf, für die junge Generation gilt das nicht mehr. Meine Kinder kennen die Existenz der DDR nur aus Geschichtsbüchern. Die Ossi-Wessi Schere im Kopf gibt es nicht mehr. Die Entscheidung für den Studienort steht und fällt mit der Frage: Wo ist es spannend, wo ist was los? An meinen Kindern sehe ich, dass die deutsche Einheit ein Generationenprojekt ist. Und von unten gebaut werden muss.

    Es gab eine große Euphorie, als die Grenze geöffnet wurde. Da ging es nicht nur ums Begrüßungsgeld, wie später sarkastisch gesagt wurde. Da ging es um die große Freude, dass man sich wieder treffen kann. Dann gab es eine Phase der Ernüchterung, auch Diskussion um das Fördergefälle. Man konnte mit einer Investition in Sachsen-Anhalt viel Steuergeld einnehmen als Unternehmer, es sind Unternehmen nach Sachsen-Anhalt gewechselt. Wie ist die gute Nachbarschaft, das Miteinander von Planungsprozessen, von Förderungen heute eigentlich? Sind wir da weit genug, um nicht neue Barrieren aufzubauen, auf subtilere Art?

    Brakebusch: Das Gefälle ist immer noch da, die Förderung ist immer noch unterschiedlich zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Aber zumindest hier in unserer Region hat es keine Probleme gegeben. Wir haben uns zusammen an einen Tisch gesetzt, auch mit dem Bürgermeister der Stadt Helmstedt. 2020 wird es einheitliche Förderbedingungen in ganz Deutschland geben, was ich sehr befürworte. Doch es war anfangs wirklich nötig, die neuen Bundesländer besonders zu fördern. Denn es sind nach der Wende so viel Unternehmen weggebrochen. Es ist kaum vorstellbar. Da hat die Treuhand mächtig gewütet. Heute weiß man das.

    Andretta: Unmittelbar nach der Wende durfte ich an einem großen Forschungsprojekt in den neuen Ländern mitarbeiten. Es ging darum zu untersuchen, wie die beruflichen Umbruchprozesse von den Menschen bewältigt werden. Das Forschungsprojekt dauerte fünf Jahre. Wir führten Interviews mit Arbeitern und Angestellten in noch bestehenden und bereits abgewickelten Industriebetrieben, in Beschäftigungsgesellschaften, im Einzelhandel und in Banken. Da wir die Interviews im Abstand von drei Jahren wiederholten, konnten wir sehen, wie schwer vielen der Umbruch und ein beruflicher Neubeginn gefallen ist, besonders den Industriearbeitern. Plötzlich war der Arbeiter nichts mehr wert im Arbeiterstaat. Eine Deindustrialisierung in unvorstellbarem Ausmaß fand statt. Komplette Belegschaften sind in Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen überführt worden. Ich werde nie die traurigen Augen eines älteren ehemaligen Schweißers vergessen, als er mir stolz von seiner Arbeit in der Stahlgießerei erzählte. Er konnte an der Flamme genau erkennen, wie hoch die Temperaturen waren. Der war dann in eine Umschulung zum Floristen gesteckt worden, beim nächsten Gespräch, drei Jahre später, arbeitslos. Das hat mir die Augen geöffnet. Viele Menschen in den neuen Bundesländern haben viel verlo-ren, sie haben Sicherheit verloren, sie haben Orientierung verloren, kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Und dass es trotzdem ein so friedlicher Wiedervereinigungsprozess war, das ist eigentlich ein kleines Wunder. Ich habe in diesen Jahren viel gelernt. Meine Hochachtung und tiefsten Respekt vor den Menschen, die dieses bewältigt haben.

    Das komplette Interview mit den Landtagspräsidentinnen

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      Die Leistung der Ostdeutschen, auch im Sinne des Erduldens, wird sicher deutlich unterschätzt. Fehlt Ihnen diese Sensibilität in der Gesamtdiskussion in Deutschland gelegentlich, Frau Brakebusch?

      Brakebusch: Eine gewisse Sensibilität für die Situation der Menschen zur Zeit der DDR-Diktatur ist auch heute immer noch notwendig. Leider verschwimmen manche Tatsachen, die uns DDR-Bürger täglich begleiteten. Es scheint manchmal, die Geschichte solle umgeschrieben werden. Gut tat durchaus die große Unterstützung, die wir auch mit der Wende bekamen. Denn die Gesetze sind uns ja auch über Nacht übergestülpt worden. Keiner wusste, was gilt. Die Nachbarstädte haben intensiv mit uns gearbeitet. Wenn wir eine Gemeinderatssitzung hatten, ging die von 18 Uhr bis weit in die Morgenstunden. Weil niemand wusste, wie die Gesetze funktionieren. Unsicherheit galt es in der damaligen Zeit auszuhalten. Viele haben sich aus diesem Tal herausgearbeitet, aber es gibt viele gerade in der älteren Generation, die das nicht überwunden haben.

      Die ostdeutschen Hochschulen wurden ja schon angesprochen. Es gibt eine wirklich bemerkenswerte Entwicklung. Viele Niedersachsen studieren inzwischen in Erfurt, in Halle, in Magdeburg und Leipzig…

      Andretta: In Leipzig ist inzwischen eine richtige Göttinger Community, Leipzig gilt unter den jungen Leuten als hip, man sagt: Leipzig ist das neue Berlin.

      Sind Sie darauf ein bisschen stolz, Frau Brakebusch?

      Brakebusch: (lacht) Selbstverständlich bin ich stolz darauf.

      Andretta: Ich war 1995 auf dem Soziologentag in Halle und war tief beeindruckt von der Martin LutherUniversität. Halle war eine der ersten bedeutenden deutschen Universitäten der Aufklärung. Sie wurde noch vor der Göttinger Universität gegründet. Fraunhofer, Max Planck, Helmholtz – alles ist jetzt in Halle auf dem Campus. Halle ist eine junge lebendige Stadt. Ich finde es großartig, was sich dort in den letzten Jahren alles entwickelt hat.

      Lassen Sie uns über Grenzüberschreitungen in einem anderen Sinne sprechen. Es gibt gemeinsame kleine Projekte, gemeinsame grenzüberschreitende Radwege zum Beispiel. Es gibt aber auch eine Hochschultradition in dieser Region. Wäre es nicht eine gute Idee, wenn es eine gemeinsame Anstrengung der Länder Niedersachsen und Sachsen-Anhalt gäbe, um eine Universitätsstadt wie Helmstedt, die auch eine lange und stolze Tradition hat, ein wenig ins Leben zurückzubringen?

      Brakebusch: Das wäre natürlich fantastisch. Ja, es sind schon viele Jahre vergangen, aber ganz kleine Bausteine sind inzwischen zu der Umsetzung dieser Idee schon sichtbar. Helmstedt kämpft um jeden kleinen Fortschritt. Ich bin zwar nicht Vertreter der Stadt Helmstedt, aber ich lade Sie gerne zu den Helmstedter Universitätstagen ein. Es gibt dort wunderbare Vorschläge und Projekte zu entdecken.

      Andretta: Zusammenarbeit von Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen sind immer eine gute Idee. So hat Göttingen als Stadt bereits 1988 eine Partnerschaft mit Wittenberg geschlossen, zu einer Zeit, als es noch die Mauer gab. Zwischen Wittenberg und Göttingen gibt es einen ganz intensiven Austausch, der auch die Universitäten einschließt. Genauso ist es zwischen den Universitäten Göttingen und Jena. Nach der Wende unterstützte die Universität Göttingen den Aufbau neuer Fakultäten in Jena, seitdem gibt es enge Kontakte und einen regen Austausch. Die TU Braunschweig wäre vielleicht ein guter Partner, um gemeinsam mit Helmstedt an die alte Universitätstradition anzuknüpfen.

      Sie sind in Ihren Landtagen mit unterschiedlichen Situationen konfrontiert. Bei Ihnen, Frau Brakebusch, ist die AfD zweitstärkste Fraktion. Die Linke sitzt auch im Landtag. In Niedersachsen ist das etwas anders. Inwieweit erleben Sie das als Spiegel, dass die gesellschaftliche Mitte in Niedersachsen deutlich stärker ist als im Osten?

      Brakebusch: Vor zwei Jahren hätte ich gesagt, die Präsenz der AfD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt spielt bundesweit eine riesengroße Rolle. Inzwischen sehe ich das nicht mehr so. Mittlerweile gibt es nur noch zwei Bundesländer, in denen die AfD nicht im Landtag vertreten ist. Ich war zur Amtseinführung von Frau Andretta in Hannover und habe Abgeordnete der AfD auch dort im Landtag gesehen. Wir hatten zu Beginn 25 AfD-Fraktionsmitglieder, drei sind inzwischen aus der Fraktion ausgetreten. Es spiegelt sich in der Zusammensetzung der Landtage einfach wider, dass viele Menschen sich alleingelassen fühlen. Und das in dritter Generation. Sie haben sich zwar privat eingerichtet, doch sehen die wirtschaftliche und politische Situation Deutschlands kritisch. Die etablierten Volksparteien haben mehr denn je die Aufgabe, Schwachpunkte und ja, vielleicht auch Fehlentscheidungen zuzugeben und zu korrigieren und so auf die Menschen mit ihren Bedenken und Sorgen zuzugehen. Die Menschen bekommen in der sogenannten politischen Mitte von den etablierten Parteien zu wenig Antworten. Mir scheint, dass die Politik ohne die Menschen nach links rückte und so eine klaffende Lücke entstand. Und diese versuchen nun die Oppositionsfraktionen, die Linke und auch die AfD, nachhaltig thematisch auszufüllen. In unserem Landtag ist dies sehr gut zu beobachten.

      Wie kann das denn gelingen, Menschen anzusprechen, sie mitzunehmen? Wie kann man glaubhaft machen, dass sie ein Teil der Gesellschaft sind und auch ein Teil der Lösung sind?

      Andretta: Ich glaube, der Entstehungshintergrund für die Abwendung von den etablierten demokratischen Parteien ist bei in Ostdeutschland lebenden Bürgern ein anderer als in West-Deutschland. Geschlossene Gesellschaften wie die der DDR waren gekennzeichnet von abwesender Unsicherheit. Man hatte seine Arbeit, war eingebunden in Kollektive, Lebensbiografien waren planbar, die Ungleichheit in der Gesellschaft war gering. Mit der Wende zerbrach diese Sicherheit. Plötzlich gab es Arbeitslosigkeit, berufliche Qualifikationen waren nichts mehr wert, Lebensentwürfe lösten sich in Luft auf. Es gab nur noch wenig, woran man sich halten konnte. Sicher, auch im Westen machten viele Arbeiter die Erfahrung, dass ihr Arbeitsplatz wegrationalisiert wurde, dass sich traditionelle Milieus auflösten. Man denke nur die Schließung der Zechen im Ruhrgebiet. Doch im Westen kam der Wandel nicht über Nacht, es gab einen funktionierenden Arbeitsmarkt, der den Wandel abfederte. All das gab es nach dem Fall der Mauer in den ostdeutschen Bundesländern nicht. Und da gab es viele Enttäuschungen. Es gab die Vorstellung von der Marktgesellschaft, dass sie eine Leistungsgesellschaft ist. Aber viele, die während ihres Berufslebens viel geleistet hatten, stellten fest, die Chancen wurden nicht nach Leistung verteilt. Viel ging nach dem Zufall, wo man gerade wohnte, ob der Betrieb überlebte, nach dem Alter. Viele sahen sich plötzlich auf der Verliererstraße der wirtschaftlichen Entwicklung. Und diese Erfahrung machen auch Menschen im Westen. Und dort, wo sich Abstiegsängste und ein Gefühl der Ohnmacht ausbreiten, da erwartet man nicht mehr viel von seinen politischen Repräsentanten. Wir als Politiker müssen uns fragen lassen: Warum haben wir zugelassen, dass Bevölkerungsgruppen sich abgehängt vom Fortschritt und ausgegrenzt vom Wohlstand sehen, zum Beispiel durch Hartz IV? Welche Antworten haben wir gegeben auf soziale Abstiegsängste im Zusammenhang mit Globalisierung und Umbrüchen in der Arbeitswelt? Politiker wählen oft eine sehr technokratische Sprache. Wir reden davon, dass es zu bestimmten politischen Entscheidungen keine Alternative gibt. Das ist letztlich eine Kapitulation der Politik. Vielleicht haben wir es als zu selbstverständlich angesehen, dass wir in einer Demokratie leben. Vielfalt, Offenheit, Pluralität muss man lernen. Demokratie muss gelernt werden, immer wieder neu, das ist vielleicht etwas unterschätzt worden, auch bei uns.

      Brakebusch: Wir hatten und haben diese Diskussion natürlich auch. Wir haben Die Linke, wir haben die AfD. Die etablierten Volksparteien müssen die Dinge wieder auf die Füße stellen. Meine Devise ist nach wie vor: Auch die AfD nicht auszugrenzen, aber massiv abgrenzen. Es sind Ängste vieler Menschen da, besonders zum Thema Asyl. Als Beispiel: Wir haben seit 1991 in Harbke die Gemeinschaftsunterkunft. Damals vermuteten viele, dass sie zu einer Katastrophe im Ort werden würde: Im Sperrgebiet, wo nie ein Fremder war, plötzlich 850 fremde Menschen. Damals waren es hauptsächlich Sinti und Roma, heute sind viele junge Leute und auch Familien da. Es gibt in Harbke mittlerweile keinen Widerstand mehr. Es ist einfach selbstverständlich, dass die Menschen, die wirklich Hilfe benötigen, da sind.

      Andretta: Sachsen-Anhalt ist das Partnerland von Niedersachsen. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer sind Mitarbeiter aus der Landtagsverwaltung nach Magdeburg entsandt worden. Sie haben beim Aufbau einer Landtagsverwaltung unterstützt, bei der Erarbeitung der Landesverfassung geholfen und die erste konstituierende Landtagssitzung mit vorbereitet. Es fanden zudem viele Begegnungen von Parlamentariern beider Landtage statt. Eine besondere Begegnung war das 2014 von beiden Landtagen organisierte Jugendforum, das in Magdeburg stattfand. Dort kamen Schülerinnen und Schüler aus Niedersachsen mit Schülerinnen und Schülern aus Sachsen-Anhalt zusammen, um über demokratische Teilhabe zu diskutieren. Diesen wertvollen Austausch möchte ich gerne fortsetzen. Im kommenden Jahr jährt sich der Fall der Mauer zum 30. Mal. Anlässlich dieses Jahrestages lade ich Sie, Frau Brakebusch, ein, unter unserer gemeinsamen Schirmherrschaft erneut ein Jugendforum stattfinden zu lassen – dann im Niedersächsischen Landtag. Gerade in diesen politisch bewegten Zeiten ist sichtbar geworden, wie verletzlich unsere Demokratie doch ist. Demokratie muss man immer wieder neu bauen.

      Brakebusch: Sehr gern.

      Gabriele Brakebusch

      Sie hat in den 62 Jahren ihres Lebens beruflich schon viel ausprobiert. Sie lernte in der DDR Verkäuferin und Krippenerzieherin und leitete eine Kindereinrichtung.

      Später ließ sie sich zur Verwaltungsfachangestellten umschulen. Ende der 90er Jahre trat Brakebusch in die CDU ein und war als Ortsverbandsvorsitzende in Harbke-Sommersdorf bis zum Jahr 2012 tätig. Seit 2002 sitzt sie im Landtag, gewann bei vier Wahlen ihr Direktmandat.

      In den vergangenen fünf Jahren war Brakebusch Vize-Fraktionschefin der Christdemokraten. Seit September 2016 kann die Abgeordnete aus Oschersleben noch einen neuen Punkt hinzufügen: Sie ist die erste Landtagspräsidentin in Sachsen-Anhalt. Gabriele Brakebusch ist verheiratet und hat drei Kinder.

      Gabriele Andretta

      Sie arbeitet seit fast 20 Jahren als SPD-Abgeordnete im Landtag in Hannover. Ursprünglich stammt Andretta aus der Moselregion in Rheinland-Pfalz.

      Zum Studium kam sie als junge Frau nach Göttingen, wo sie seitdem lebt. Andretta studierte Sozialwissenschaften, Volkswirtschaft und und Psychologie, während ihrer Studienzeit trat sie in die SPD ein. Später machte sie ihren Doktor und arbeitete danach am Soziologischen Forschungsinstitut und an der Uni in Göttingen, bevor sie 1998 erstmals in den Landtag einzog.

      Die 56 Jahre alte Mutter zweier Kinder kümmerte sich vor allem um Wissenschaftspolitik, im Landtagswahlkampf 2013 gehörte sie zum Schattenkabinett von Ministerpräsident Stephan Weil. Ab 2013 war Andretta Vizepräsidentin des Landtags. Seit November 2017 ist sie Präsidentin.