Braunschweig. Chefredakteur Armin Maus spricht im Podcast “Diese Woche“ über die Vordrängler beim Impfen wie den Peiner Landrat - und was er davon hält.

Hochmut ist’s, wodurch die Engel fielen, woran der Höllengeist den Menschen fasst. Friedrich Schiller ist ja nicht gerade für sprachliche Selbstbeschränkung bekannt. Aber sein Prolog aus der Heiligen Johanna von Orleans trifft doch ein wenig die aktuelle Lage.

Der Peiner Landrat ließ sich impfen, obwohl er noch nicht an der Reihe war. So hat es auch sein Erster Kreisrat getan. Außerhalb unserer Region werden ähnliche Fälle berichtet, von Geschäftsführern von Krankenhäusern und anderem Verwaltungspersonal, von Oberbürgermeistern. Die Empörung ist groß. Es wird, wenn der Zorn halbwegs im Zaum bleibt, von „Vordränglern“ gesprochen.

Einer von ihnen, das Hallenser Stadtoberhaupt Bernd Wiegand, hat geschildert, wie er zur Impfung kam. Er sei angerufen worden. Er stehe auf einer Liste zu impfender Personen und solle binnen 15 Minuten zur Stelle sein. Wiegand sagt, er habe das abgelehnt. Eingeknickt sei er erst, als ihm gesagt wurde, es gebe keinen anderen Empfänger. Das Vakzin werde weggeworfen, wenn er nicht komme. Wiegand ließ sich stechen.

Viele Menschen waren empört

Die Empörung liegt nahe. Schließlich warten alleine in Niedersachsen Zehntausende alter und schwerkranker Menschen auf die schützende Dosis. Jeder von ihnen hätte die Impfung dringender gebraucht. Mit Kenntnis der Details wird allerdings klarer, dass zumindest ein Teil der Geimpften nicht in böser Absicht gehandelt hat. Politiker und Verwaltungsleute, die jetzt als Raffzähne dastehen, spielen bei der Seuchenbekämpfung unter Umständen eine wichtige Rolle. Ihr Ausfall kann schwerwiegende Folgen haben. Das scheint manchem das Augenmaß verweht zu haben.

Rechtfertigt die Verantwortung eines Landrats die vorzeitige Impfung? Darf er den Arm hinhalten, solange gesundheitlich schwer angeschlagene Mitmenschen diesseits der 80 Jahre noch auf Monate hinaus keine Chance auf Impfschutz haben – obwohl ihr Gesundheitszustand eine Corona-Infektion lebensgefährlich macht? Die Antwort verträgt Nachdenken, kann aber nur auf ein klares Nein hinauslaufen. Das hat mit der Vorbildwirkung der Spitzen von Politik, Wirtschaft und Verwaltung zu tun. Sie dürfen keine Sonderbehandlung fordern noch akzeptieren, gerade weil sie besondere Verantwortung für das Gemeinwesen tragen. Nach Aristoteles, dem Urvater unserer Theorien über Staat und Gesellschaft, sind die Einflussreichen Diener der Gemeinschaft, nicht ihre Herren.

Viele sind der Infektionsgefahr ausgesetzt

Da hilft auch nicht der Hinweis auf Impfdosen, die anderenfalls verworfen worden wären. Es gibt so viele Beschäftigte im Gesundheitswesen, die hoher und unmittelbarer Infektionsgefahr ausgesetzt sind, Polizisten und Pfleger, die an der Corona-Front kämpfen. Es muss, verdammt noch mal, möglich sein, diese Menschen zur Spritze zu rufen, wenn Dosen übrig sind. Landräte, Erste Kreisräte und Oberbürgermeister können dazu beitragen, dass das klappt.

Verantwortung kann man nicht an- und ausziehen wie jene Schneehosen, die wir diese Woche endlich mal wieder gebraucht haben. Den fragwürdigsten Teil zur Empörung trägt deshalb die Landesregierung bei, deren Sprecherin besonders kräftig ins Jagdhorn stieß. Diese Landesregierung hat vieles richtig gemacht. Aber sie trägt Mitschuld an den massiven Spannungen, die sich an den „Vordränglern“ entladen: Das niedersächsische Impfmanagement ist ein Trauerspiel. Die Impfquote ist in unserem Bundesland noch niedriger als im Rest der Republik, der Abstand zu Mecklenburg-Vorpommern, dem Land mit der höchsten Quote, besorgniserregend. Und das liegt ausschließlich an der Unfähigkeit Niedersachsens zu pragmatischen und schnell wirkenden Lösungen. Man sollte nicht mit Schneebällen auf andere werfen, wenn alle zusammen gerade von einer Lawine überrollt werden.

Wut von Kommunen

Ich verstehe die Verantwortlichen in den Kommunen, die vor Zorn in die nächste Schneewehe springen möchten, wenn sie in hohem Tempo Impfzentren organisieren und dann einfach niemand geimpft werden kann, weil selbst bei besserem Impfmanagement nicht ansatzweise genügend Impfstoff da wäre. Darin liegt der eigentliche Skandal der vergangenen Wochen. Sagen wir es so hart, wie es ist: Die EU spielt mit dem Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger. Während in Israel zwei Drittel der Bürger geimpft sind und im ungleich bevölkerungsreicheren Großbritannien schon jeder Fünfte Schutz genießt, krepeln all jene, die sich auf den Zentraleinkauf der Europäischen Union verlassen hatten, um die Vier-Prozent-Schwelle herum. Man kann sich kaum ein verheerenderes und offensichtlicheres Versagen einer Institution vorstellen. Und die nationalen Regierungen, die das Desaster geschehen ließen, nehmen Deckung hinter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die immerhin den Anstand besitzt, die Fehler einzugestehen.

Die Folge sind lebensbedrohend lange Wartezeiten besonders gefährdeter Menschen, eine schwere Belastung für alle anderen und die fortgesetzte Lähmung unseres Gemeinwesens. Wie sollte es nach dem 7. März möglich sein, den Lockdown zu lockern, wenn von „Herdenimmunität“ keine Rede sein kann und jeder Kontakt die Verbreitung des Virus erleichtert? Zumal es noch immer Unternehmen und Behörden gibt, die Homeoffice nicht systematisch möglich machen? Die bundesweit beachtete Virologin Melanie Brinkmann, mit dem Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und der TU-Braunschweig gleichermaßen verbunden, hält das Impf-Rennen gegen die Mutationen des Corona-Virus schon für verloren.

Diejenigen, die zur Reste-Impfung die Ärmel hochkrempelten, kannten die Lage besser als Sie und ich. Dass sie nicht klüger reagierten, macht ratlos. Bei ihnen wie bei den Verantwortlichen für das europäische Impfstoff-Debakel werden beeindruckende politische Lebensleistungen infrage gestellt. Der Schaden, den sie an der Glaubwürdigkeit unseres Systems angerichtet haben, ist ohne Rücktritt kaum zu heilen.

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