Auschwitz. Im polnischen Dorf Monowice leben die Bewohner noch mitten in den Relikten des größten Verbrechens – und mit ihnen.

Die Information war klar. Von Monowitz, einem von drei Schreckensorten im Vernichtungskomplex Auschwitz der Nationalsozialisten, gebe es kaum noch Spuren. Das Arbeits- und Konzentrationslager Monowitz, nur sechs Kilometer vom Stammlager Auschwitz und von Birkenau entfernt, hat eine Sonderstellung. Es war das KZ der IG Farben, die im angrenzenden Chemiekomplex synthetischen Kautschuk (Buna) herstellte.

Und hier kommt Primo Levi ins Spiel, der Mann, der mich auf die Spur von Monowitz brachte.

Der Schriftsteller, der 1919 in Turin geboren wurde und 1987 vermutlich Suizid verübte, war Jude und Chemiker. Als Partisan wurde er verhaftet und 1944 nach Auschwitz deportiert. Als Chemiker aussortiert, wurde er Zwangsarbeiter – in Monowitz. Und überlebte, auch weil er im Labor kleine Zündsteine stahl, die gegen Brot, Suppe und Schuhe eingetauscht werden konnten.

Kreuz und Schwarze Madonna: Gedenkort der Bürger von Monowice.
Kreuz und Schwarze Madonna: Gedenkort der Bürger von Monowice. © Henning Noske | Henning Noske

In seinem Bericht „Ist das ein Mensch?“ schildert Primo Levi das Leben in Monowitz, es ist eine der eindringlichsten Schilderungen dessen, was Menschen einander antun können. Levi erzählt von einem Kosmos des Bösen, in dem sich alle Beteiligten entmenschlichen. Er beschreibt eine „Grauzone“, in der sich auch der Überlebende noch schuldig fühlt. Und er sagt über das Unvorstellbare: Weil es geschehen ist, kann es wieder passieren.

Diese Gedanken im Kopf, suche ich nach Monowitz. Ich bin für eine Woche in die Internationale Jugendbegegnungsstätte im polnischen Oswiecim (Auschwitz) eingezogen, gemeinsam mit jungen Auszubildenden, die in den Gedenkstätten helfen und Eindrücke sammeln.

Monowitz, das ist Monowice, jenes Bauerndorf, das einst für das KZ weichen musste. Die Bewohner wurden vertrieben. Nachdem das Lager im Januar 1945 von den Russen befreit worden und der Krieg zu Ende war, kehrten sie zurück.

Man sehe dort nichts mehr von all dem Schrecken, heißt es. In meinem Stadtplan kommt Monowice nicht vor. Der gewaltige Chemiekomplex, heute polnisch und wieder mit deutschen Unternehmen, ist immer noch da. Nicht weit vom Eingangstor entfernt ein offizielles Denkmal, eine Gedenkplatte, Blumen ...

Mehr nicht? Mit dem Wagen und zu Fuß umrunde ich das Chemiewerk. Es ist eine Landschaft der Relikte. Überall alte Baracken, gekrümmte Zaunträger, Schutt, alte Fundamente, zwischen denen Kohl gezogen wird, rostiger Stacheldraht. Alles neben modernen Chemie-Anlagen, die immer noch vom alten Buna-Zaun umgeben sind ...

Luftschutzbunker, vermutlich in der Nähe der ehemaligen SS-Kaserne.
Luftschutzbunker, vermutlich in der Nähe der ehemaligen SS-Kaserne. © Henning Noske | Henning Noske

Der Bahnhof von Dwory sieht immer noch aus, als würde gleich ein Zug mit Häftlingen nach Auschwitz abfahren. Hier erhalte ich den entscheidenden Hinweis: „Suchen Sie die Teiche auf der anderen Seite der Fabrikstraße.“ Das passt. Auf dem Luftbild der Alliierten, die 1944 Bombenangriffe auf Buna vorbereiteten, ist genau dort das Lager zu erkennen.

Was wird man davon noch sehen? Vermutlich nichts, denke ich noch, als mitten in der kleinen, einsamen Siedlung ein Luftschutzbunker auftaucht, der zum Hinweisschild für eine 100 Meter entfernte Lagerhalle umfunktioniert wurde. Ich bin da. Die SS hatte knapp außerhalb des Lagergeländes solche Bunker platziert – Schutz gegen die Luftangriffe.

Und dann geht es plötzlich Schlag auf Schlag. Immer mehr Ruinen tauchen auf, verfallene Gebäude, aus deren Mauerresten Birken und Sträucher sprießen, Baracken mit backsteingemauerten Fundamenten. Gleich in mehreren Gärten stehen sie, teils bizarr offenbar auch aus Resten zusammengezimmert, als Gartenhäuschen, Garagen, am und hinterm Gartenzaun, drapiert mit Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt wurde. Vor einer kleinen Kaufhalle die einzigen Menschen, die mir an diesem Tag begegnen. Man trinkt Bier im Freien. Als ich auf eine der Baracken zeige, radebrecht einer auf Deutsch: „Nicht gut. Böse.“

An der Einfahrt in dieses Monowice steht ein anderes Mahnmal, nicht das offizielle. Es heißt, die Einwohner hätten es errichtet. Ein Kreuz, Blumen, die Schwarze Madonna. Auch hier eine Tafel. Gedenken an mehr als 20.000 Menschen, die von 1941 bis 1945 als Zwangsarbeiter für die IG Farben ums Leben kamen.

Nur wenige überlebten Monowitz, darunter nicht nur Primo Levi, sondern auch Elie Wiesel (1928-2016), dessen Erzählung „Die Nacht“ erschüttert. Wiesel, mit seiner Familie aus dem rumänischen Sighet deportiert, erlebt, wie bereits in Auschwitz die Mutter und die Schwestern „selektiert“ werden, durchgeschickt in die Gaskammer, man sieht sie nie wieder. Da hilft kein Gott.

Furcht vor Luftangriffen der Alliierten: Einmannbunker für Wachmannschaften in Monowice, darauf heute Hinweise auf eine Lagerhalle.
Furcht vor Luftangriffen der Alliierten: Einmannbunker für Wachmannschaften in Monowice, darauf heute Hinweise auf eine Lagerhalle. © Henning Noske | Henning Noske

Mit dem Vater gelangt er über Dwory zur Zwangsarbeit nach Monowitz, und es beginnt eine herzzerreißende Geschichte, in der sich Vater und Sohn gegenseitig immer wieder am Leben erhalten – und im Elend des Existenzkampfes dennoch zunehmend voneinander entfremden.

Als die Nazis die Konzentrationslager evakuieren, überleben beide sogar noch den Todesmarsch bis nach Buchenwald. Dann wird der Vater, längst dem Tode näher als dem Leben, erschlagen. Der damals 16-jährige Elie Wiesel fühlt sich schuldig: Man hätte in Monowitz in der Krankenbaracke bleiben können...

So wie Primo Levi, der – an Ruhr erkrankt – nicht zum Todesmarsch aufbrach. Wenige Häftlinge bleiben so am Ende in Monowitz übrig, vielleicht ja gerade hier, wo ein weiterer Block ins Blickfeld gerät, weitere Baracken, so als hätte man das alles einfach liegen gelassen, und niemand würde sich jetzt mehr dafür interessieren.

Und dem Besucher, der genau danach gesucht hat und jetzt unvermittelt hineingerät, wird plötzlich klar: Dieses Lager, es ist noch da, es ist ein Friedhof und eine Gedenkstätte wie die anderen, man muss es besuchen, hier muss man innehalten, auch forschen. Rund um Buna, so unser Eindruck, ist eine einzige zerklüftete, rätselhafte, unerforschte Erinnerungslandschaft.

Erinnerung auch an Jean Améry (1912 - 1978), der ebenfalls in Monowitz inhaftiert war und als Schreiber da drüben im Buna-Werk arbeitete. Améry beschreibt in seinen Reflektionen („Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“) das Elend des Nachdenkens über die wesentlichen Dinge des Lebens im Lager. Da hilft kein Hölderlin. „Nein, wir hatten keine Angst vor dem Tode. Deutlich erinnere ich mich, wie Kameraden, in deren Blocks Selektionen für die Gaskammern erwartet wurden, nicht über diese sprachen, wohl aber mit allen Anzeichen von Furcht und Hoffnung über die Konsistenz der zu verteilenden Suppe.“

Jean Améry überlebt den Todesmarsch über Gleiwitz bis ins Lager Mittelbau-Dora bei Nordhausen. 1978 nimmt auch er sich das Leben.

Im Nachwort zu „Ist das ein Mensch?“ finden wir Primo Levis Vermächtnis und damit auch das von Auschwitz-Monowitz: „Ich glaube, in den Schrecken des Dritten Reichs ein einzigartiges, exemplarisches, symbolisches Geschehen zu erkennen, dessen Bedeutung allerdings noch nicht erhellt wurde: die Vorankündigung einer noch größeren Katastrophe, die über der ganzen Menschheit schwebt und nur dann abgewendet werden kann, wenn wir es wirklich fertigbringen, Vergangenes zu begreifen, Drohendes zu bannen.“