Festivalhopper Sascha hat auf Festivals öffentliche Heiratsanträge, aber auch schwere Verletzungen miterlebt.

Sascha Sroka mag sich ein Jahr ohne Konzert- und Festivalbesuche nicht vorstellen. „Die sind mir extremst wichtig“, sagt der 28-jährige Bad Harzburger. „Ich bin dann wie in einem Tunnel und kann ganz von der Arbeit und vom Alltag abschalten“, erzählt er. Vor allem bei mehrtägigen Festivals taucht er in eine eigene kleine Welt ab, in der das sonst so präsente Handy in der Tasche bleibt, er unerwartete Bekanntschaften schließt und nur noch die Musik im Fokus steht. „Die Songs klingen live explosiver als von der CD. Bass und E-Gitarre gehen direkt durch den Körper“, beschreibt er, „da werden viele Freudenhormone ausgeschüttet.“

Um das immer und immer wieder zu erleben, trommelt er mindestens einmal im Jahr Freunde zusammen und packt das kleine blaue Zelt ein, das schon Stürme überstanden hat und ihn seit dem allerersten Festival treu begleitet. Das war 2011 auf der Sandrennbahn bei Scheeßel, das Hurricane-Festival mit 70.000 Besuchern. „Das war bis jetzt das anstrengendste Festival, auf dem ich je war“, sagt Sascha und lacht bei der Erinnerung. Es war sein zweites großes Musikevent, zwei Jahre zuvor hatte er die US-Punkrockband Rise Against mit seiner Freundin, die heute seine Verlobte ist, in der Stadthalle Offenbach gesehen. Ganz entspannt schauten sie von Sitzplätzen aus zu und waren angefixt. Sie wollten intensiver in das Konzerterlebnis eintauchen, mitten in der Menge, die sie da nur beim Pogen beobachteten. Zwei Jahre später also, bei derselben Band, unter ungleich mehr Zuschauern, fand sich Sascha beim Hurricane hinter dem ersten Wellenbrecher, einer metallenen Abtrennung, wieder – und wanderte ohne eigenes Zutun mit der Menschenmasse einmal von ganz links nach rechts. „Nach eineinhalb Stunden war ich platt und musste raus. Ein Kumpel ist schon vorher geflüchtet“, schildert er. Wenn 70.000 Leute tanzen, springen, ausrasten, wird der Einzelne zu einer Erbse in einer Packung, die geschüttelt wird. An seinem ursprünglichen Standort bleibt in den dicht an dicht gepressten Menschenreihen keiner. „Das war der helle Wahnsinn, so viel Power von der Bühne aus und in der Menge habe ich nicht wieder erlebt“, sagt Sascha euphorisch.

Die Energie, die sich beim Toben in der Enge entfaltet, kann jedoch gefährlich werden, wie ihm beim selben Auftritt klar wurde. Während Sascha zusah, dass er nicht eingequetscht wurde, schob sich eine Gruppe an ihm vorbei in Richtung Security – mit einem Ohnmächtigen auf ihren Armen. Dem Jungen war die Kniescheibe beim Pogen rausgesprungen. „Das war das Schlimmste, was ich auf Festivals erlebt habe“, sagt Sascha. Es verleidete ihm das neu entdeckte Hobby nicht, sorgte aber dafür, dass er einen Entschluss fasste: mittendrin muss er nicht mehr stehen. „Ich habe kein Problem damit, weiter hinten zu stehen“, erklärt er, „Ich lehne gern entspannt mit dem Rücken am zweiten Wellenbrecher, da bin ich nicht mehr so eingequetscht, habe aber immer noch eine super Sicht.“ Vorteilhaft sei auch die Nähe zu den Securitys, die bei Hitze Wasser verteilen.

Erste Reihe hat ihren Preis

Bei einem Billy-Talent-Auftritt stand Sascha auch schon mal in der ersten Reihe und schwärmt heute noch von der Nähe zu den Musikern. Die hatte ihren Preis. Um den Platz zu halten, stand Saschas Gruppe schon gegen 14 Uhr dort, das Konzert begann erst um 21 Uhr. Er verpasste den Auftritt einer anderen Rockband auf der zweiten großen Bühne und nahm stattdessen ein Konzert des von ihm nicht ganz so begehrten Rappers Cro in Kauf. Stunden vorher trank er weniger, um nicht mehr auf die Toilette gehen zu müssen. Das Erste-Reihe-Konzert war berauschend, vielleicht tatsächlich einmalig – denn eigentlich geht Sascha Festivals lieber gemütlich an. „Ich will die Ablenkung, aber relaxt. Wenn ich einen entspannten Platz habe, gut sehe, die Band richtig Lust hat, dann kommen die gute Stimmung und der Spaß von ganz allein“, beschreibt er.

Dazu gehört für ihn auch das Gruppenerlebnis. Der 28-Jährige verabredet sich zu Festivals mit Freunden, die er nicht so oft sieht, macht aber auch neue Bekanntschaften auf dem Zeltplatz. „Das sind schöne Erlebnisse, einmal haben wir uns mit einem Pärchen aus Bielefeld so gut verstanden, dass wir das ganze Wochenende zusammen verbracht haben.“

Da bei größeren Festivals meist mindestens um die 70 Bands auftreten, ist Sascha an solchen Wochenenden schon oft auf Bands aufmerksam geworden, die er vorher nicht kannte und inzwischen gerne hört. Dazu gehören die Indieband Kraftklub und die Punker von Broilers. In guter Erinnerung ist ihm auch die bayerische Blasmusikgruppe La Brass Banda, die die Menge dazu brachte, mit ihr barfuß zu tanzen. „Wir sahen danach alle aus wie Sau, aber es war sehr witzig.“

Bands, die häufig über Festivals touren, sieht er häufiger – am wenigsten bedauert er das bei den Toten Hosen, seiner Lieblingsband. Sechs Mal hat er sie bisher gesehen, an Strahlkraft haben sie bei ihm nicht eingebüßt. „Die machen einfach jedes Mal eine super Stimmung, und man merkt, dass sie selbst richtig Lust auf die Auftritte haben“, berichtet er. Ganz anders wäre das bei einem Auftritt der Red Hot Chili Peppers in Hannover gewesen. Sie hätten die Lieder „nur runtergespielt“, so sein Eindruck – „das Geld, die noch mal live zu sehen, spare ich mir lieber.“

Festivals wurden zu Kleinstädten

Lust auf Wiederholung hätte dagegen ein Konzert von Udo Lindenberg in Leipzig gemacht. Sascha liegt als junger Mann nicht unbedingt in der Kernzielgruppe des alten Rockers, wurde aber dennoch mitgerissen. „Das war ein riesiges Erlebnis, der hat drei Stunden abgerockt, ist mit einer Gondel über die Fans gefahren, lässt sich richtig was einfallen – das war das beste Konzert, das ich bisher gesehen habe.“ Das Einbeziehen der Fans gefällt ihm auch gut an Eagles of Death Metal – sie brachten Fremde dazu, auf der Bühne herumzuturteln – und an Kraftklub, bei denen es einen Heiratsantrag auf der Bühne gab.

Mit den Jahren sind die Besucherzahlen bei vielen Rockfestivals gestiegen. Sascha merkt das vor allem an einer Öffnung des Musikspektrums weg vom reinen Rock – und an einer Professionalisierung der Angebote vor Ort. Von Vegan bis Glutenfrei sei alles an Essensständen vertreten – und Drogerie und Supermärkte gibt es inzwischen auch auf den Geländen. „Es sind Kleinstädte geworden“, findet Sascha, „das ist echt Wahnsinn.“ Gestiegene Sicherheitsmaßnahmen, die damit und mit der allgemeinen Terrorbedrohung einhergehen, nimmt er jedoch kaum wahr. Dass Kontrollen am Einlass genauer geworden sind, befürwortet er. „Ich hoffe, es bleibt so friedlich, wie es bisher war.“

Auf seiner Liste noch zu sehender Bands stehen große Namen, Rammstein, Foo Fighters, U2. Die ersten beiden touren in diesem Jahr in Deutschland, aber bei Sascha steht mit seiner Hochzeit Wichtigeres an, er wird es zeitlich und finanziell nicht schaffen. Doch ganz ohne Livemusik geht es einfach nicht: „Wir werden sicher auf ein Konzert gehen, eher spontan zu einer kleineren Band.“ Mit Blick auf Familienplanung vermutet er, in Zukunft weniger Zeit für sein Hobby zu haben. „Aber das wird mich mein Leben lang begleiten. Vielleicht mieten wir dann mit 50 einen Camper, um darin gemütlich auf Festivals zu fahren.“