Braunschweig. Die drei Täter schlugen vor Jahren in Cremlingen und Wolfsburg zu. Mehr als 150.000 Euro sind ausgelobt. Die Ermittler befürchten weitere Taten.

RAF heißt „Rote Armee Fraktion“. RAF, das klingt nach Gewalt und Größenwahn, nach Schleyer und Stammheim, nach vielen schlimmen und ziemlich alten kriminellen Geschichten, die jedoch im Kern mit Politik zu tun haben. Wenn heute die Rede ist vom RAF-Trio Staub/Garweg/Klette, ist das offenbar anders. Es geht nicht um irgendwelche RAF-Ziele, sondern um die Raffgier dreier Menschen, die ihr mutmaßlich kostspieliges Leben im Untergrund durch brutale Raubüberfälle auf Geldtransporter und Supermärkte zu finanzieren versuchen.

„Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Raubüberfälle nicht mehr politisch motiviert sind, sondern die Beschuldigten damit ihren Lebensunterhalt bestreiten, weshalb weitere Raubüberfälle möglich erscheinen.“ So hat man das bei der federführenden Staatsanwaltschaft Verden formuliert. Zum dritten Mal im vergangenen Jahrzehnt haben die Behörden jetzt eine öffentliche Fahndung angeschoben. Es sieht so aus, als ob es neue Ermittlungsansätze gibt bezüglich dieser Täter, die gleich zweimal in unserer Region zugeschlagen haben sollen. Das Amtsgericht Verden hat Untersuchungshaftbefehle gegen die Beschuldigten erlassen. Mehr als 150.000 Euro seien insgesamt ausgelobt für Hinweise, heißt es.

Rund 250 Hinweise nach Aufruf in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“

Nach einem Aufruf in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ haben die Ermittler rund 250 Hinweise zu drei früheren Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) erhalten. Darunter seien 80 anonyme Hinweise, teilte die Staatsanwaltschaft Verden am Freitag auf dpa-Nachfrage mit. Den Beschuldigten Ernst-Volker Staub, Daniela Marie Luise Klette und Burkhard Garweg wird unter anderem versuchter Mord sowie eine Serie von schweren Raubüberfällen vorgeworfen. Die gesuchten drei ehemaligen RAF-Terroristen sind bereits in den 90er Jahren untergetaucht. DNA-Spuren brachten die Ermittler darauf, dass die drei für Raubüberfälle auf Geldtransporte und Supermärkte im Zeitraum zwischen 1999 und 2016 verantwortlich sein können.

„Die Ermittlungen zum aktuellen Aufenthaltsort und im Umfeld werden mit unveränderter Intensität fortgesetzt und die Behörden versuchen weiter, einen Kontakt zu den Gesuchten herzustellen“, schrieb der Staatsanwalt. Ihm zufolge wurden die neuen Hinweise in drei Gruppen eingeteilt. Fünf Hinweise hätten die höchste Priorität bekommen. Ihnen seien die Ermittler sofort nachgegangen, bei einem Hinweis dauerten die Ermittlungen an. Weitere 46 Hinweise erhielten die Priorität 2 und die übrigen 194 die Priorität 3. Die Ermittlungen zu diesen Hinweisen liefen oder würden veranlasst.

Der Sprecher verwies darauf, dass weiter Hinweise entgegengenommen werden. Meldungen sind auch online über ein System möglich, bei dem die Anonymität technisch garantiert wird. In der Sendung „Aktenzeichen XY... ungelöst“ am 14. Februar hatte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Verden auch an Unterstützer der Beschuldigten appelliert, sich zu melden. „Wir können von Glück sprechen, dass bisher niemand getötet wurde“, sagte er.

Tatorte waren unter anderem Wolfsburg und Cremlingen, Osnabrück und Stuhr in Niedersachsen sowie Hagen und Bochum-Wattenscheid in Nordrhein-Westfalen. Auffallend sei, dass fast alle Taten im Zusammenhang mit Feiertagen begangen worden seien, teilte die Staatsanwaltschaft Verden mit. Auffallend sei auch, dass die teils gestohlenen, teils gekauften Fluchtfahrzeuge längere Zeit im Besitz der Täter waren. Unbekannt war aber zunächst, wo die Fahrzeuge in dieser Zeit standen, einige müssen laut Anklagebehörde längere Zeit geparkt gewesen sein.

Staatsanwalt bei „Aktenzeichen XY“: RAF-Trio möglicher mit falscher Identität unterwegs

Koray Freudenberg, Sprecher der Staatsanwaltschaft Verden, spricht in der TV-Sendung am Mittwochabend von 13 schweren Überfällen von 1999 bis 2016. Die Opfer seien hochgradig traumatisiert von den Taten. Es sei möglich, dass das Trio mittlerweile mit falscher Identität unterwegs sei, auch in verschiedenenen Ländern. Und in Deutschland würden die Terroristen dann zu den Taten zusammenkommen.

Die Hoffnung bestünde darin, dass Menschen, die Kenntnisse über das Trio hätten, ihre Einstellung zur Polizei ändern und mit ihr sprechen würden. Das könne auch anonym und ohne Rückverfolgung über das sogenannte BKMS-System geschehen.

RAF-Trio - um wen geht es überhaupt?

Ernst-Volker Staub (geboren 1954), Daniela Klette (1958) und Burkhard Garweg (1968) werden der „dritten Generation“ der linksterroristischen, 1998 offiziell aufgelösten RAF zugerechnet. Seit mehr als dreißig Jahren leben die drei im Untergrund, seit 2020 stehen sie auf der europäischen „Most-Wanted-Liste“. Der gebürtige Hamburger Staub, der älteste der drei, ist in der Szene seit langem bekannt und saß schon in den 1980ern jahrelang im Gefängnis, beteiligte sich 84/85 auch an einem Hungerstreik. Daniela Klette, die sich in den 70ern in Hessen radikalisiert hat, soll Staubs Lebensgefährtin gewesen sein und machte bei mehreren RAF-Anschlägen mit. Allerdings äußerte ihre Mutter vor Jahren schon in der Bild-Zeitung die Vermutung, dass ihre Tochter nicht mehr lebe. Ebenso wie Staub und Klette war laut Bundesanwaltschaft auch Burkhard Garweg 1993 mit für den Sprengstoffanschlag gegen die JVA Weiterstadt verantwortlich.

Das Attribut „dritte RAF-Generation“ ist übrigens nicht unumstritten. Vor Tagen erst schrieb der Journalist Dietmar Seher über die nun als Buch herausgekommenen Erinnerungen des verstorbenen Verfassungsschützers Lothar Dahlke. Ihm zufolge hätten diese „späten“ Linksterroristen im Bundesamt für Verfassungsschutz als „Anti-imperialistischer Widerstand“ (AiW) firmiert. Leute aus der RAF oder dem RAF-Umfeld wie Staub, Garweg und Klette sind laut Dahlke eigentlich „Hardcore-Militante aus dem AiW“ gewesen und Kadern zugehörig, „die zum Teil eine militärische Ausbildung im Libanon“ erhalten hätten.

Was wird dem RAF-Trio zur Last gelegt?

Militärisches Gerät spielt bei den Raubüberfällen, um die es hier geht, durchaus eine Rolle. Das Schema des Überfalls im Juni 2016 im Cremlinger Gewerbegebiet ist typisch. Maskierte Täter bedrohten den Fahrer eines Geldtransporters mit einem Schnellfeuergewehr à la Kalaschnikow und einer Panzerfaust, nachdem zwei Autos das überfallene Fahrzeug eingekeilt hatten. Eine dritte Person soll in dem Cremlinger Geschäft Geld gefordert und in die Decke geschossen haben. DNA-Spuren verrieten den Ermittlern später, dass Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub in Cremlingen am Werk waren. Auch vorherige Überfälle werden ihnen zugrechnet, etwa in Wolfsburg-Nordsteimke (Dezember 2015), in Essen (Dezember 2015) in Stuhr bei Bremen (Juni 2015) und in Bochum-Wattenscheid (2006). In der Hehlinger Straße in Nordsteimke sollen die Verdächtigen mit einem grünen Golf-Variant und einem blauen Ford Focus unterwegs gewesen sein. Hier scheiterte allerdings das Einkeilen des Geldtransporters und sie mussten ohne Beute flüchten. Das LKA Niedersachsen nannte in dem Zusammenhang auch weitere Taten, die Staatsanwaltschaft Verden legte sich auf keine Zahl fest und erwähnte jetzt „u.a.“ fünf Überfälle. Trotz der 2015/2016 auch mit künstlich „gealterten“ Fotos intensivierten Fahndung konnte das Trio nicht gefasst werden. Unbekannt ist, ob die drei sich im Inland oder im Ausland versteckt halten.

Wie ist der neue Stand der Ermittlungen?

Die Staatsanwaltschaft Verden teilt mit, dass sich aufgrund von Durchsuchungen und Vernehmungen in den vergangenen Monaten neue Ansätze ergeben hätten. Die Ermittler gehen zum einen davon aus, dass das Trio „mindestens“ zwischen 1999 und 2016 in Deutschland gewohnt habe und zum anderen, „dass die Beschuldigten in diesem Zeitraum und darüber hinaus die Unterstützung und Hilfe Dritter erfahren haben“. Wie der „Spiegel“ berichtet, habe das LKA Niedersachsen im März 2023 Räume von Burkhard Garwegs Eltern und Geschwistern in Hamburg und Frankfurt durchsucht. Dabei seien zwei Briefe sichergestellt worden, die dem mutmaßlichen Terroristen zugeordnet werden. Der Verdener Oberstaatsanwalt Koray Freudenberg teilte am Freitag unserer Zeitung mit, man wolle mit dem neuerlichen Aufruf insbesondere die „Szene“ ansprechen, also das Unterstützerfeld der Terroristen. Das heißt: Die Behörden wenden sich gezielt an die Familien der Beschuldigten, deren Freundeskreis und andere ehemalige RAF-Unterstützer. Dezidiert weisen sie auf die Möglichkeit hin, Hinweise vertraulich und anonym zu geben. Dies gelte übrigens auch für die Gesuchten selbst, für die es einen „sicheren Weg“ gebe, sich an die Staatsanwaltschaft zu wenden und „Modalitäten eines etwaigen Sich-Stellens oder die Möglichkeit der Kronzeugenregelung zu besprechen“.

Konkret fragen sie jetzt unter anderem:

  • Wo haben sich die Gesuchten in dem Tatzeitraum von bis 1999 bis 2016 aufgehalten? Wo sind sie aktuell?
  • Wer steht oder stand zu den Gesuchten oder einem der Gesuchten in Kontakt?
  • Wer kennt Personen, die die Gesuchten unterstützen oder unterstützt haben beziehungsweise wissen, wo sich diese aufhalten, sich aus Angst aber nicht an die Polizei wenden?
  • Wer hat Tatvorbereitungshandlungen zur Kenntnis genommen, sich bislang aber nicht an die Polizei gewandt?
  • Haben Sie Personen in Ihrem Umfeld, die den Gesuchten ähnlich sehen und ein ungewöhnliches Verhalten zeigen?
  • Wer verfügt über Bilder oder Filmaufnahmen, die die Beschuldigten zeigen?
  • Mit wem waren die Beschuldigten in den 80ern und 90ern eng befreundet?
  • Zu wem hatten sie Kontakte (etwa Rote Hilfe, Autonome Szene, Komitee gegen Folter oder zu anderen politischen Organisationen) in Deutschland oder im Ausland?
  • Konsumieren die Beschuldigten Drogen, sind Krankheiten bekannt?
  • Wo waren sie in medizinischer, insbesondere zahnmedizinischer Behandlung?
  • Bestanden oder bestehen psychische Probleme?
  • Welche Interessen und Vorlieben haben die Beschuldigten?

Für Hinweise, die zur Ergreifung der Beschuldigten führen, sind von verschiedenen Stellen eine Belohnung in Höhe von mindestens 150.000 Euro ausgesetzt worden. Allerdings warnen Staatsanwaltschaft und LKA ausdrücklich: „Treten Sie nicht selber an die Beschuldigten heran! Die Beschuldigten sind bewaffnet!“ Sachdienliche Hinweise nimmt das LKA Niedersachsen unter der Rufnummer (0511) 9873-7400 entgegen. Alternativ können Hinweise auch per E-Mail an vita@lka.polizei.niedersachsen geschickt werden.

Was spricht für eine erfolgreiche Fahndung nach dem RAF-Trio?

Auch bei Raubüberfällen können Menschen zu Tode erschreckt und traumatisiert werden. Insofern geht die erste Frage bezüglich der Ermittlungen in alten Fällen an den Braunschweiger Rainer Bruckert, der über viele Jahre für den „Weißen Ring“ Opfern von Gewaltverbrechen zur Seite gestanden hat. „Für viele Opfer ist es wichtig, dass Ermittlungen immer weitergehen oder wieder aufgegriffen werden“, sagte Bruckert unserer Zeitung. „Sie warten darauf, dass die Täter gefasst werden, um besser mit der Geschichte abschließen zu können.“ Jedoch: Für andere Opfer von Gewaltverbrechen – ungefähr ebenso viele – gelte die umgekehrte Regel. „Für sie ist es schmerzhaft, wenn immer wieder neu davon die Rede ist. Da sieht man, wie schwierig der Umgang mit den alten Fällen ist“, sagte der Experte. Doch Bruckert ist natürlich auch als ehemaliger Zielfahnder und ehemaliger LKA-Abteilungsleiter ein Kenner der kriminalistischen Aspekte der Suche nach untergetauchten Profis. „Es ist immer wieder erstaunlich, dass die Fahndung oft nach Jahrzehnten plötzlich erfolgreich ist“, sagt er. Und gibt zu bedenken: „Viele Menschen machen sich falsche Vorstellungen von untergetauchten Menschen, so mit Palmen und so weiter. Das ist Unsinn. Diese Menschen leben unter größtem Stress. Die Belastung ist enorm. Und oftmals müssen sie richtig viel Geld dafür bezahlen, nicht aufzufliegen“. Der Kriminaldirektor a. D. erinnert sich sogar an einen Fall mit eigener Zielfahnder-Beteiligung, in dem der gefasste Täter seinen Jägern auf eine erstaunliche Weise entgegengetreten sei – voller Dankbarkeit, dass sie ihn endlich aufgespürt hatten.

Das Archivbild zeigt den Tatort im Juni 2016 in Cremlingen.
Das Archivbild zeigt den Tatort im Juni 2016 in Cremlingen. © FMN | Hans-Dietrich Sandhagen