Gifhorn. Der Igel ist das Tier des Jahres 2024, aber von Gefahren umstellt. Doch Tierschützerinnen helfen ihm und appellieren an Gartenbesitzer.

Wie süüüüß! Fünf kleine Igel wuseln miteinander, aneinander, durcheinander in der mit Tüchern ausgelegten Kiste herum. Ihre Stacheln sind noch gar nicht richtig stachelig, sind eher wie stark gegeltes Kurzhaar. Ach Gottchen, soeben ist einer abgerutscht, liegt auf dem Rücken und fiept mal kurz, bevor er sich aufgerappelt hat. Die anderen lassen jetzt auch was von sich hören: Ja, nun ist das tatsächlich ein quiekendes Quintett – wirklich irre putzig.

Doch ich will ehrlich sein; der Mensch hat ja mehrere Sinnesorgane. Und so muss ich es jetzt einfach mal sagen: „Hier stinkt’s ja wirklich tierisch…“ Worauf Bärbel Rogoschik verständnisvoll nickt, dann aber sagt, dieser Geruch sei „eigentlich noch gar nichts“.

Der Wortwechsel in der Küche des Artenschutzzentrums in Leiferde mag typisch sein für so manche Tierschutz-Debatte. Natürlich spielt es eine Rolle, dass es jetzt hier um „süße“ Igel geht – und nicht um „hässliche“ Ratten oder „widerliche“ Parasiten, von denen Igel übrigens leider oft befallen sind. Gleichwohl geht es nicht um Vermenschlichung, Dutzi-Dutzi und Überbetreuung. „Der Igel ist ein Wildtier“, stellt Bärbel Rogoschik klar, „und zwar ein bedrohtes Wildtier.“ In einer Abstimmung wählten die Spender der Deutschen Wildtier-Stiftung den Igel zum Tier des Jahres 2024.

Darum ist der Igel so gefährdet

Wir sitzen jetzt an einem langen Tisch im Nabu-Artenschutzzentrum im Kreis Gifhorn und reden über den Igel, den guten alten Insekten-, Schnecken-, Spinnen und Würmerfresser. Neben Bärbel Rogoschik, die dieses Zentrum seit 25 Jahren leitet, sitzt Frauke Engelhardt, die sich um Umweltbildung und PR beim Naturschutzbund kümmert. Als erstes möchte ich natürlich wissen, was mit dem Quintett in der Kiste los ist. Verwaist sind die fünf Tierchen. Die Mutter wurde zerquetscht, unter einer Palette, die auf einem Firmengelände lag. „Das passiert leider häufiger“, sagt Rogoschick, „doch es ist gut, dass man uns die fünf Kleinen gebracht hat. Die werden jetzt hier aufgepäppelt und dann ausgewildert.“

Überhaupt spielen die „Braunbrustigel“ (das ist der Name der in West- und Mitteleuropa typischerweise anzutreffenden Art) in Leiferde im Herbst eine große Rolle. Mehr als vierhundert Tiere werden hier pro Jahr betreut. Weil sie fast verhungert oder verletzt aufgefunden wurden. Ja, der Igel hat’s grundsätzlich nicht leicht. Das Insektensterbentrifft ihn hart. Heiße Sommer und trockene Böden sind nicht gut für ihn. Steingärten, Versiegelung und Pestizideinsatz setzen ihm zu. Er verletzt sich in Stabmatten- und Maschendraht-Zäunen sowie in offenen Mausefallen.

Die Collage zeigt oben (von rechts) Bärbel Rogoschik, Frauke Engelhardt und Laureen Matti in Leiferde mit den jungen Igeln, die auch in der Mitte zu sehen sind. Auf einem Archivbild ist unten die „Igelmutter“ Martina Schulenburg zu sehen.
Die Collage zeigt oben (von rechts) Bärbel Rogoschik, Frauke Engelhardt und Laureen Matti in Leiferde mit den jungen Igeln, die auch in der Mitte zu sehen sind. Auf einem Archivbild ist unten die „Igelmutter“ Martina Schulenburg zu sehen. © keine Angabe | Kristin Heine

Ebenfalls viel gefährlicher als seine natürlichen Feinde Uhu, Fuchs und Dachs sind der Straßenverkehr im Allgemeinen und die Mähroboter im Besonderen. „Immer wieder sehe ich Verletzungen, die von den schrecklichen Mährobotern herrühren, mit deren Bewegung die nachtaktiven Tiere natürlich nicht rechnen“, sagt Bärbel Rogoschik, „das ist wirklich schlimm.“

So hilft die „Igelmutter“ aus Ummern

Viele Gefahren also, viele Probleme gibt es, na klar. Doch der Igel hat auch Freunde. Im Ummern zum Beispiel, auch im Kreis Gifhorn gelegen, erreiche ich Martina Schulenburg am Telefon. Seit mehr als dreißig Jahren kümmern sie und ihr Mann sich um die Stacheligen. Ihr Ruf als sogar tierschutzpreisgekrönte „Igelmutter“ bringt es mit sich, dass auch hier reihenweise verletzte oder unterernährte Tiere abgegeben werden, die sie in einem ehemaligen Kuhstall mit hochwertigem Katzen- oder Hundefutter wieder auf Trab bringt. „Mich faszinieren diese wunderbaren Tiere. Die Welt der Igel ist nicht in Ordnung, ich empfehle die Bücher von Monika Neumeier zum Thema“, sagt Martina Schulenburg noch – und tatsächlich will es der Zufall, dass genau jetzt jemand an ihrer Haustür klingelt und, na klar, zwar keinen Igel in der Tasche hat, aber einen im Eimer vorbeibringt. „Entschuldigung“, sagt Martina Schulenburg, „darum muss ich mich mal kümmern.“

Das kann jeder Gartenbesitzer für Igel tun

Nicht nur passionierte Fachfrauen können beweisen, dass die ein Herz für Igel haben. Damit ist nicht unbedingt gemeint, sagt Frauke Engelhardt in Leiferde, die Igel privat zu versorgen. Wenn die Tiere nicht verletzt oder abgemagert sind, lässt man sie günstigerweise einfach in Ruhe. Auch sie in den Wald zu bringen, ist nicht schlau, da die Igel dort unter Umständen nicht gut zurechtkommen oder sich ihrer Reviertreue wegen auf den gefährlichen Rückweg machen. Von der Haltung des Tiers im Büro samt Fütterung mit Milch, Cornflakes, Camembert (alles schon vorgekommen) halten die Artenschützerinnen schon überhaupt nichts. Wenn Ad-hoc-Hilfe nötig sei, ist außer dem besagten Dosenfutter (mit möglichst hohem Fleischanteil, keine Speisereste, kein Obst, kein Gemüse!) viel Flüssigkeit wichtig, und zwar nur Wasser, keine Milch. Nur Igel-Säuglinge bekommen eine Spezialmilch.

Wichtig ist aber auch das, was Gartenbesitzerinnen und -besitzer indirekt für die schützenswerten Tiere tun können. In diesen Wochen benötigen Igel einen Unterschlupf, in dem sie – in der Regel von November bis März – ihren Winterschlaf halten. Gut geeignet sind ein dichter Laubhaufen oder ein Holzstapel in einer stillen Ecke des im Idealfall zum Teil unaufgeräumten Gartens.

Keine 300 Gramm hat der Igel gewogen, der in einem Ilseder Garten bei Minusgraden gefunden wurde. Damit er überlebt, haben die Finder ihn zur Igelhilfe nach Vallstedt gebracht, dort wird er rund um die Uhr aufgepäppelt und versorgt.

In einem Ilseder Garten ist dieser Igel gefunden worden. Mittlerweile ist er bei der Igelhilfe in Vallstedt.
In einem Ilseder Garten ist dieser Igel gefunden worden. Mittlerweile ist er bei der Igelhilfe in Vallstedt. © FMN | Celine Wolff

So baut man dem Igel ein Häuschen

Wer Lust hat, kann außerdem ein nach unten offenes Igelhäuschen kaufen oder basteln, dessen Maße am besten 30 mal 30 mal 30 Zentimeter sind und das (zur wetterabgewandten Seite) einen knapp zehn Zentimeter großen Eingang hat, der für Hunde und Katzen unzugänglich ist. Im Idealfall ist das Häuschen – oder auch die auf den Kopf gestellte Obstkiste – mit Stroh oder trockenem Laub gefüllt und nach außen isoliert.

So, aber Bärbel Rogoschick würde nicht seit 25 Jahren ein Artenschutzzentrum leiten, wenn sie nicht wüsste, dass die Vorstellungen vieler Menschen von ihren Gärten ganz andere sind. Was ist, wenn Igel als störend empfunden werden, zum Beispiel weil der Hund immer wieder am Rad dreht, wenn er dem Igel beziehungsweise auch seinen Stacheln begegnet? „Ich erinnere daran, dass Igel geschützte Tiere sind. Man darf ihn nicht fangen, töten oder verletzen. Ich bin selbst Hundebesitzerin, dann muss ich das mit dem Hund halt anders regeln“, sagt Rogoschik.

Gut, wir merken uns: Kein Igel ist egal – und keiner illegal. Doch die meisten Menschen haben die immer schon als schlau konnotierten, tief mit unserer Kulturgeschichte verbundenen Tiere ohnehin gern. Immer wieder faszinierend findet man ja auch nicht nur die Idee des Sich-Einigelns, sondern spätestens ab November auch die des Winterschlafs. Bis zu 40 Prozent ihres Körpergewichts (von 800 bis 1400 Gramm) verlieren Igel in dieser Zeit. Und, auch wichtig: In diesen Monaten wird der Igel die Parasiten los, erklärt Bärbel Rogoschik.

Auch dem quiekenden Quintett in der Küche nebenan möchte man schon mal einen guten Winterschlaf wünschen. Doch natürlich ist das noch zu früh. Denn jetzt kommt erstmal die Pflegerin Laureen Matti um die Ecke. Und bringt Futter.

Was muss ich über Igel wissen?

Wie viele Stacheln hat so ein Igel eigentlich?

Beim in Mitteleuropa dominierenden Braunbrustigel sind es an die achttausend.

Wie alt werden Igel?

In freier Natur werden sie zwischen drei und sieben Jahre alt. Als ältester Igel der Welt gilt einer in Dänemark, der 16 Jahre alt geworden ist.

Wie pflanzen sie sich fort?

Im Durchschnitt vier bis fünf Neugeborene, zunächst blind und hilflos, bringt ein Igelweibchen zur Welt.

Kann man Igel essen?

Theoretisch ja. Bei den Römern wurde gebratener Igel durchaus gegessen.

Wurden Igel für die Medizin herangezogen?

Und wie! In der Antike galt Igelasche als Haarwuchsmittel. Mit getrocknetem Igelblut „behandelte“ man Nieren- und Blasensteine, mit Igelfett ging man gegen Wunden vor.

Hans Falladas schöne Igel-Geschichte

Märchen, Fabeln, Redewendungen: Eigentlich immer schon fasziniert der Igel die Menschen. Herausgegriffen sei an dieser Stelle die „Geschichte vom getreuen Igel“. Sie stammt von Hans Fallada (eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen, ,1893-1947) und fand Eingang in seine für Kinder gedachte Sammlung „Geschichten aus der Murkelei“ aus dem Jahr 1938.

Eine Aufnahme des Schriftstellers Hans Fallada (1893-1947).
Eine Aufnahme des Schriftstellers Hans Fallada (1893-1947). © picture alliance / Bifab | Bifab

„Es war einmal ein Mann aus der Stadt aufs Land gezogen, der kannte die Igel noch nicht und wusste nicht, was sie für getreue Gesellen sind“, so fängt die Geschichte an. Natürlich stört sich der Mann an dem Igel in seinem Garten. „Hör mal, was willst du denn hier? Dies ist mein Garten!“, lässt Fallada den Städter rufen. Und nun kommt auch noch der Hund ins Spiel. Erst frisst der Igel dem Hund den Napf leer. Dann versucht der Hund, den Igel zu schnappen und tut sich ganz schön an den Stacheln weh. „So was wollen wir nicht bei uns haben, wo es piekt und noch dein Futter wegfrisst, nicht wahr?“, spricht der Mann zum Hund.

Erschwerend – wenn auch unrealistisch – kommt hinzu, dass der Igel dem Mann als „Birnendieb“ auffällt. Kurzum: Er versucht ihn auszuhungern oder sonstwie loszuwerden. Das geht immer wieder schief, weil er einfach nicht begreift, „was für getreue Gesellen die Igel sind“. Selbst als er seinen Untermieter in einem Boot auf den See hinausfuhr und über Bord warf („Meinetwegen können sich die Fische deine Stacheln in ihre Mäuler pieken“) war’s vergeblich. Jawohl, Igel können schwimmen...

Der Höhepunkt von Falladas Geschichte bahnt sich so an: Eines Tages bemerkt der Mann ein Loch in seinem Garten, denkt an Mäuse und stochert ein wenig. „Aber er fuhr angstvoll zurück, denn aus dem Loch kam ein böses, scharfes Zischen, und hervor fuhr ein kleiner Kopf mit rötlich funkelnden Augen, weit geöffnetem Maul, und zwischen den aufgesperrten Kiefern tanzte eine zweiteilige, dünne Zunge. Nach schob der Leib, grau, mit einem scharfen Zickzackband den ganzen Rücken entlang, und jetzt war die ganze Schlange draußen, und voller Angst sah der Mann, dass es eine Kreuzotter war, die böseste und giftigste Schlange, die im deutschen Lande lebt, so giftig, dass ein einziger Biss von ihr einen Mann töten kann.“ Grausam hält die wütende Otter nun den Unglückseligen in Schach. „Der Mann aber stand da, in Angst vor dem Biss der Schlange, und konnte gar nichts tun. Versuchte er nur, den Fuß zu rühren, um wegzulaufen, so brachte das die Schlange in neue Wut, und sie stieß vor mit dem Kopf, und ihr tödlicher Biss drohte ihm.“ Überhaupt schien sein letztes Stündlein zu schlagen, kaum noch konnte er sich auf den Beinen halten. Doch da raschelte es – und der Igel kam hinzu. Wieder und wieder biss die Schlange den Igel, doch das machte dem nichts (Igel sind tatsächlich immun gegen das Schlangengift). Stattdessen machte er der Otter den Garaus.

Die Läuterung des Städters ist nun keine Überraschung mehr: „Oh, du getreuer Igel! So oft habe ich dich mit dem Tode bedroht und aus dem Garten gewünscht. Du aber bist immer wiedergekommen und hast mir nun sogar das Leben gerettet. (…) Da lernte der Mann, was für nützliche Gesellen die Igel sind, die nicht nur die Schlangen töten, sondern auch Mäuse und Käfer und Raupen und Ohrwürmer. Da wurde der Igel, den er erst hatte töten wollen, sein liebster Freund. Auch hielt der Mann sein Versprechen: freute sich mehr und ärgerte sich weniger, und hatte so ein gutes Leben. Nur eines tat der Mann nicht: er ließ den Igel nicht mit sich im Bette schlafen. Und das kann man ihm nicht übelnehmen: als Schlafgefährte war der Igel zu stachelig, auch hatte er wie alle Igel viel Flöhe.“