„Wir leben in nachchristlichen Zeiten, keine Frage. Dennoch bestimmt die Religion noch immer unseren Jahreslauf mit – einschließlich des Advents.“

Es war schon ein genialer Coup der frühen Christen, die heidnischen Wintersonnenwend-Kulte umzudeuten zum Geburtstag ihres Gottessohns. Der vermutlich in einer Felsenhöhle irgendwo in heißer Wüste geboren worden war. Nun also, wie es in einem Weihnachtslied heißt, „mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht“.

Genial deshalb, weil sich so die heidnische Lichtsymbolik leicht in die christliche Metapher von Jesus als „Licht der Welt“ ummünzen ließ, das in gottferner Finsternis die Menschheit erhellte.

Kriege und Klimakrise: Chancen auf Rettung schwinden

Und wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten. Besonders in diesem Jahr, so will es uns scheinen. Der Krieg zeigt in Europa seine Fratze. Und wir merken unausweichlich, wie die Erde unter den Füßen verbrennt. Eben ist wieder ein Klimagipfel gescheitert. Viele Chancen auf Rettung gibt es wohl nicht mehr.

Aber die Zeiten waren immer schon finster. Etwa im 30-jährigen Krieg, als der fromme Liederdichter Paul Gerhardt folgende Zeilen an das Kind in der Krippe richtete: „Ich lag in tiefer Todesnacht,/ du warest meine Sonne,/ die Sonne, die mir zugebracht/ Licht, Leben, Freud’ und Wonne.“

Geradezu triumphal hebt Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium von 1734 an, als die Zeiten wohl auch nicht viel heller waren: Der Gesang gerät schon fast zum Kommando: „Jauchzet, frohlocket!“ In einem anderen Kirchenlied erklingt die jubilatorische Zeile: „Christus, der Retter, ist da!“

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Es war im Abendland diese heute nur noch schwer begreifliche Hoffnung, nein: die Gewissheit verwurzelt, dass Gott seinen eigenen Sohn in der Gestalt eines aramäischen Kindes auf die Erde gesandt habe, um… Ja, warum eigentlich?

Was spielt Religion heute noch für eine Rolle?

Und heute? Wenn ich meine eigene Lebensspanne von einer katholischen Kindheit im Rheinland bis heute überblicke, so erscheint mir der Verfall des Christentums zumindest in Deutschland, aber wohl auch in Europa, rapide. Einer Religion, die doch den Kontinent über Jahrtausende fest im Griff hatte.

Dass Jesus mit seiner Bergpredigt irgendwie ein guter Typ war, darauf kann man sich zur Not noch einigen. Aber die metaphysische Geschichte vom Gastspiel des Gottessohns auf der Erde? Schwierig, wenn man ganz ehrlich zu sich selber ist – auch bei bestem Willen und viel Nachdenken.

Das Christentum bleicht aus, es scheint ermüdet vom vielen Hoffen. Sicher, es gibt eine Standardantwort auf die Frage, warum Gott seinen Sohn zu uns gesandt hat: um uns zu erlösen. Da erscheint mir nicht nur, dass die Geschichte eben schon sehr sehr lange her ist, ohne dass sich irgendetwas substanziell verbessert hätte für die Menschheit. Sondern sie ist letztlich auch zu kompliziert. Schon Jesu Jünger,
vor allem Judas, waren enttäuscht, dass der Herr auf dieser Welt nichts bewirkt hat und sich bestialisch
abschlachten ließ, anstatt sein Volk vom Joch der Römer zu befreien.

Mehr lesen: Das Goldene Herz- „Hoffnung auf Hilfe“ in Krisenzeiten

Schon klar, sein Reich war nicht von dieser Welt. Aber: Retter? Erlöser? Wovon hat er die Menschen nochmal genau erlöst? Von ihren Sünden? Indem er sich abschlachten ließ? Das mag alles theologisch irgendwie zu erklären sein, und letztlich ist es natürlich eine Sache des Glaubens. Aber für einen heutigen Normalverstand bleibt diese Konstruktion zu nebulös, wenn nicht gar konfus.

Die Theologin Johanna Rahner resümiert: „Man ringt heute nicht mehr mit oder um Gott. Glaube ist für den Normalfall des Lebens schlicht irrelevant geworden.“ Gott sei für die Menschen nutzlos. „Schon die Frage nach ihm ist überflüssig.“ Der Philosoph Rüdiger Safranski spricht von der „Jenseitsvergessenheit“ der Menschen.

Advent – die Zeit, in der viel von Besinnlichkeit die Rede ist

Vor vielen Jahren, als das Religiöse auch in dieser Zeitung noch eine größere Rolle spielte, sprach ich mit dem Rabbi Jonah Sievers über den Messias. Wie er sich denn dessen Ankunft vorstelle, fragte ich ihn. Er strahlte und sprach: „Das weiß ich doch nicht! Aber ich bin ganz sicher: Es wird alles ganz anders sein. Ganz anders!“ Tja, mit so einem Messias täten wir uns leichter. Nur kommt er leider nicht.

Wir leben in nachchristlichen Zeiten, keine Frage. Dennoch bestimmt die Religion noch immer unseren Jahreslauf mit. Einschließlich der vierwöchigen Wartezeit, die wir Advent nennen. In der immer viel von Besinnlichkeit die Rede ist und die Hektik uns in Wahrheit den letzten Nerv raubt.

Hier soll jetzt nicht das Lamento über die Verkitschung, Kommerzialisierung, Glühweinseligkeit etc. der Adventszeit angestimmt werden. Das ist erstens zu ausgeleiert. Zweitens verleibt sich der Kapitalismus sowieso alles ein, was mal heilig war. Drittens ist das Lamento auch etwas unredlich. Schließlich holt sich das Heidentum ja nur zurück, was mal seins war.

Sentimentaler Phantomschmerz statt Weihnachtsstimmung

Aber die christlichen Rudimente, so oberflächlich und verfälscht sie inzwischen auch sein mögen, halten zumindest eine Erinnerung wach an eine menschliche Dimension, in der es überhaupt noch etwas Heiliges gab. So etwas total abgefahren Irres und Übergroßes wie das Weihnachtswunder.

Nein, ich finde Gott nicht. Ich kann ihn nicht finden. Das geht über meinen Verstand und wäre auch vermessen. Auch das Glauben ist von Zweifeln angenagt.

Aber ich erinnere mich an Adventssonntage, als wir mit unserer Mutter am Küchentisch beim Kakao saßen und uns vorlasen, auch als wir Kinder eigentlich schon zu alt dafür waren. Ich erinnere mich an ähnliche Nachmittage mit der eigenen Familie im Kerzenlicht. An Rituale wie das Auswählen des Weihnachtsbaums, Proben von Krippenspielen, Malen von Geschenkbildern. An Chorkonzerte in romanischen Vorortkirchlein, ans Weihnachtsoratorium im Dom. An „Oh du Fröhliche“ zu Orgelgebraus in der Christmette. An den Heimweg unter Sternen, die heller zu leuchten schienen als sonst. An eine irgendwie beseelte Ist-doch-Weihnachten-Stimmung.

Es ist eine Art sentimentaler Phantomschmerz. Wenn man so will, die Sehnsucht nach einer verlorenen kosmischen Geborgenheit. Gerade in finsteren Zeiten. Irgendwie lebt und webt es trotz aller Verweltlichung wohl doch noch weiter tief in unserer Gefühlswelt, das christliche Erbe.