„Viele Gruppierungen beanspruchen die alleinige Deutungshoheit für sich. Wer nicht mitzieht, steht auf der falschen Seite, ist der Feind.“

Es geschah vor einigen Jahren auf einer Dienstreise. Im Auto hörte ich im Radio einen Bericht über SPD-Lokalpolitiker in Essen. Die äußerten sich sehr kritisch gegenüber den Absichten des Stadtrates, der im Norden Essens sechs von sieben Großunterkünften für Flüchtlinge geplant hatte. Die SPD-Vertreter wurden wegen ihrer ablehnenden Haltung nicht nur von Essener Parteigenossen scharf angegangen, sondern auch die damalige NRW-Ministerpräsidentin und Genossin Hannelore Kraft verurteilte die Kritik.

Dabei hatten die Kommunalpolitiker grundsätzlich gar nichts gegen Flüchtlinge. Sie waren auch nicht ausländerfeindlich. Ihre Kritik bezog sich lediglich darauf, dass sie ihrer nicht unberechtigten Angst vor einer Ghettoisierung im Norden der Stadt Luft machten. Der gilt als sozialer Brennpunkt mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Migrantenanteil. Und ausgerechnet dort sollten gleich sechs von sieben Großunterkünften für Flüchtlinge entstehen.

Ich merkte, wie ich an Temperatur gewann und in mir die Wut hochstieg. Sind wir als Gesellschaft wirklich schon so verlogen, dass offensichtliche Fehlentwicklungen nicht mehr kritisiert werden dürfen und dass nicht darüber gestritten werden darf? Unglaublich.

Dass einer der Kritiker aus SPD-Reihen als Konsequenz zur AfD wechselte, war aus seiner Sicht ebenso konsequent wie für die SPD schlimm. Und höchst blamabel.

„Man traut sich nichts mehr“

Schon seit geraumer Zeit begegnet mir der Satz „Man traut sich gar nicht mehr, etwas zu sagen“ immer öfter. Das ist mehrfach fatal: Weil die Angst vor Gegenwind stärker ist als das Verteidigen der eigenen Meinung. So verkümmern Reibungsflächen, die für die gesellschaftliche Entwicklung so wichtig wären. Nicht zuletzt ist diese Haltung eine Gefahr für unsere Demokratie; sie fördert Opportunismus und verhindert einen offenen Diskurs. Die Aussage wird als Alibi genutzt, sich vor der eigenen Courage zu drücken. Dabei verlangen die Herausforderungen unserer Zeit eine breite und konstruktive Diskussions- und Streitkultur. Dazu gehört nicht nur die Frage, wie wir Einwanderer am besten in unsere Gesellschaft aufnehmen und integrieren. Die Liste der Themen ist lang: Der Ukraine-Krieg, Corona, nachhaltiges Wirtschaften, Klimakrise, soziale Gerechtigkeit, Energiepolitik sind nur einige Stichworte. Hier braucht es starke Argumente, konstruktiven, durchaus heftigen Streit und sachorientierte, pragmatische Lösungen. Es braucht zwingend das Miteinander.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Auf der einen Seite sind selbst ernannte Systemsprenger wie die AfD, die Un- oder Halbwahrheiten verbreiten und durch eine Politik der Provokation und Nadelstiche die Grenzen des Sagbaren in ihrem, nach rechts außen gerichteten Sinn erweitern wollen. Das führt zu einer Verrohung der Sprache und der Sitten.

Zunehmende Verkrampfung

Auf der anderen Seite erleben wir eine zunehmende Verkrampfung, unter anderem im links-alternativen Lager. Sei es, wenn es ums Gendern geht, weil das Nicht-Gendern als sexistisch gilt. Sei es, wenn es darum geht, dass nun Kinder nicht mehr „Indianer“ spielen dürfen, weil das Tragen eines Indianer-Kostüms auch im kindlichen Spiel als „kulturelle Aneignung“ gilt.

Die Folge: Die Angst, sich in diesem Dschungel – oder müsste es politisch korrekter Ur- beziehungsweise Naturwald heißen? – zu verheddern und anzuecken, jemanden möglicherweise – und sei es auch nur theoretisch – zu diskriminieren, fördert Angst und Verkrampfung.

Zugleich ist die Gefahr des Stigmatisiertwerdens groß: Kritiker der Einwanderungspolitik laufen Gefahr, ganz schnell in die braun-rechte Ecke gestellt zu werden. Wer nicht gendert, ist reaktionär. Kritiker unseres nach wie vor zu wenig nachhaltigen Wirtschaftssystems gelten schnell als „Ökospinner“. Das sind nur einige wenige Beispiele.

Stigmatisieren ist bequemer, als bessere Argumente zu finden

Dabei würde es sich doch lohnen, allen erstmal zuzuhören. Insbesondere jenen, die eine ganz andere Meinung vertreten. Nur so könnte die wirklich beste Lösung gefunden werden – durch den Austausch von Argumenten. Aber Stigmatisieren ist viel bequemer, als bessere Argumente zu finden.

Natürlich muss es Grenzen geben. Aber sie müssen weiter gesteckt werden als bisher, unser Grundgesetz gibt den Rahmen vor. Der Korridor, in dem wir „ungestraft“ diskutieren, ist aus meiner Sicht viel zu eng.

Befördert wird die Entfremdung von den sozialen Netzwerken. Sie bieten allen Diskussionsfaulen und Rechthabern digitale Ökosysteme, in denen ihnen nicht Widerspruch begegnet, sondern nur ewiger Beifall von Gleichgesinnten. Das ist für die Entwicklung unserer Gesellschaft und das Lösen der vielfältigen Probleme ein gewaltiger Bremsschuh, wir kommen so nicht ein My voran, sondern ersticken in der eigenen Selbstgerechtigkeit und Engstirnigkeit.

Die Folge: Eine zunehmende Fraktionierung der Gesellschaft, in der viele Gruppierungen die alleinige Deutungshoheit für sich beanspruchen und einen unnachgiebigen, mitunter penetranten Missionierungseifer entwickeln. Wer nicht mitzieht, steht auf der falschen Seite, ist der Feind. Lautstärke und mitunter Militanz verdrängen das Zuhören und das Argumentieren.

Widerspruch erwünscht

Zurück zum Radiobeitrag über die Essener SPD-Lokalpolitiker: Seit dieser Sendung verfolge ich die Entwicklung unserer Diskussions- und Streitkultur noch aufmerksamer – mit zunehmender Besorgnis. Daraus entstand die Idee für den Podcast „Streitpunkte“ , der nun erstmals online geht. In ihm soll nicht nur erläutert werden, warum wir das Streiten verlernt haben, es soll auch diskutiert und gestritten werden mit meinungsstarken Persönlichkeiten aus unserer Region. Der Korridor der Themen ist bewusst breit gewählt, ebenso das Spektrum der Meinungen. Anecken ist erwünscht, Widerspruch sowieso. Nur zivilisiert sollte es bleiben.