„Die Politik ist nicht nur in der Bringschuld. Während Ukrainer ums Überleben kämpfen, ist es nicht zu viel verlangt, mal die Tagesschau zu schauen.“

Es war natürlich keine repräsentative Umfrage. Aber bei meinem Streifzug durch die Wolfsburger Innenstadt am Dienstag fiel sehr stark auf, wie wenige Menschen von dem keinen Kilometer Luftlinie entfernten G7-Treffen in der Autostadt wussten.

Kaum Lokalpatriotismus, vor allem lässiges Desinteresse war zu spüren. Die Leute schlürften lieber weiter ihren Cappuccino. „Aha. Die Minister sind da. Und was wollen die hier?“, hieß es. Dabei hatte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) extra in seine erweiterte Heimat geladen. Es war das erste G7-Treffen in der Region Braunschweig/Wolfsburg überhaupt.

Der Peiner Heil ist Chef des SPD-Bezirks Braunschweig, zu dem auch Wolfsburg gehört. Heil war der Stolz anzumerken, den Ministern seine Heimat zeigen zu dürfen. Die Minister aus den großen westlichen Industrienationen wiederum fühlten sich gebauchpinselt ob dieser Gastfreundlichkeit. VW-Topmanager um Personalvorstand Gunnar Kilian bekamen frei Haus die Gelegenheit, den Ministern den Konzern und dessen ambitionierten E-Mobilitäts-Ziele vorzustellen.

Die Minister schotteten sich ab

Zur Ehrenrettung der Wolfsburger sei gesagt, dass es sich nicht um Joe Biden oder Emmanuel Macron handelte. Die Staats- und Regierungschefs schickten „nur“ ihre Arbeits- und Sozialminister nach Wolfsburg, die außerhalb ihrer Länder nur sehr eingeweihte Politik-Nerds kennen. Autogramme wurden da nicht gejagt. Und: Die Minister sowie die Ministerin aus Kanada schotteten sich samt ihrer Delegationen ab. Sie logierten im Ritz Carlton und stolperten aus ihren teuren Zimmern quasi in den Tagungsort wenige Meter entfernt. Volksnah war das nicht, wohl auch aus Sicherheitsgründen bedingt. Dafür war es perfekt organisiert, wie es aus den Delegationen und von den Ministern und der Ministerin immer wieder hieß.

Immerhin bekam der ein oder andere Besucher der Autostadt die Minister hier und da mal zu Gesicht, denn die Autostadt hatte ganz normal geöffnet. Der linke Flügel der Autostadt war allerdings für die Minister und ihre Delegationen reserviert. Wer rein wollte, wurde minutenlang gefilzt.

Beim G7-Treffen der Außenminister im schleswig-holsteinischen Wangels wenige Tage zuvor war das noch krasser. Hier rauschten die Außenminister mit ihren Limousinen bis direkt vor das Schloss am Strand an der Ostsee, verließen es drei Tage lang nicht – und brausten samt ihrer Entourage wieder davon, wie die Bürgermeisterin des 2000-Seelen-Orts unserer Zeitung berichtete.

Gabriel: Wir müssen da hin, wo es brodelt, wo es stinkt

Erinnert sei an die Rede von Sigmar Gabriel auf dem SPD-Parteitag 2009. Seine Sätze gelten heute womöglich noch mehr, da die Distanz zwischen „dem“ Bürger und „der“ Politik immer größer zu werden scheint. Der Goslarer brachte es auf den Punkt, sagte: „Wir dürfen uns nicht zurückziehen in die Vorstandsetagen, in die Sitzungsräume. Unsere Politik wirkt manchmal aseptisch, klinisch rein, durchgestylt, synthetisch. Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Weil nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben.“

Auch eben jener Sigmar Gabriel sorgt heute allerdings für die Politikverdrossenheit, die bei der Landtagswahl vor zwei Wochen in Nordrhein-Westfalen für eine desaströse Wahlbeteiligung von nur 55,5 Prozent gesorgt hat. Gabriel war Berater für den umstrittenen Fleischkonzern Tönnies und sitzt heute im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Rechtlich kein Problem, da Gabriel die gesetzlich vorgeschriebene „Abkühlphase“ nach seiner Minister- und Abgeordnetentätigkeit einhielt. Der Eindruck bei den Bürgern aber steht auf einem anderen Blatt.

Es fehlt zudem an charismatischen Spitzenpolitikern. Die Wähler in NRW hatten die Wahl zwischen einem mittelalten Juristen mit Brille von der CDU und einem mittelalten Juristen mit Brille von der SPD.

Olaf Scholz muss viel mehr erklären

Gerade die SPD hat derzeit so ihre Schwierigkeiten. Altkanzler Gerhard Schröder kassierte lieber weiter Hunderttausende im Jahr für seine Aufsichtsrats-Tätigkeiten in russischen Energie-Konzernen. Dann waren da vor gut einem Jahr die Maskendeals über CSU-Kanäle. „Die da oben machen ja sowieso, was sie wollen“, heißt es dann.

„Die da oben“ gibt es aber nicht. Viele, viele Abgeordnete im Bundestag und in den Landtagen machen einen sehr ordentlichen Job, kümmern sich in ihren Wahlkreisen. Der moderierende und aussitzende Politikstil von Kanzlerin Angela Merkel war rückblickend fatal. Auch Olaf Scholz’ Führungsstil ist erratisch. Gerade jetzt muss er doch viel mehr erklären, die Leute mitnehmen.

Andererseits ist die Politik nicht nur in der Bringschuld. Während die Ukrainer um demokratische Grundwerte, ihre Freiheit, um ihr nacktes Überleben kämpfen, ist es sicher nicht zu viel verlangt, mal ab und zu die Tagesschau zu schauen oder die Zeitung zu lesen. Das braucht es schon, um ein mündiger Bürger zu sein. Vielleicht hätten dann auch mehr Wolfsburger Wind davon bekommen, dass die G7-Minister in ihrer Stadt über die Ächtung von Kinder- und Zwangsarbeit sowie die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt diskutieren.

Was würde Neil Postman heute wohl sagen?

Stattdessen schauen sich weltweit mehr als eine Milliarde Menschen ein verwackeltes Filmchen an, auf dem Brad Pitts Töchterlein Shiloh rumzappelt. Geht’s noch? Die „Gala“ schrieb auf ihrer Internetseite: „Shiloh Jolie-Pitt: Bei ihren Dance-Moves spielt das Internet verrückt“.

Zeitgleich zerreißen sich Millionen von Deutschen in den Sozialen Netzwerken ihre Mäuler über das einstige Vorzeigepaar der deutschen Influencerszene: Die Fans von Bibi und Julian fühlen sich nach deren Trennung hintergangen. Oh My God!

„Wir amüsieren uns zu Tode“ – das Buch des amerikanischen Medienwissenschaftlers Neil Postman ist zwar bereits Mitte der 80er-Jahre erschienen, seine Analyse über die Auswirkung des Fernsehens auf die Gesellschaft ist aber auch heute noch lesenswert. Kaum auszumalen, welche Aussagen Postman heute treffen würde.