“Das politische Spitzenpersonal in einem großen Bundesland wie Niedersachsen hatte gefühlt mehr Format als das heutige im Bund.“

Mit Altersmilde blickte Gerhard Glogowski (SPD) Mitte der Woche in unserer Zeitung auf die Ereignisse in Berlin. Gefühlt im Minutentakt gibt es dort neue Drehungen und Wendungen in den Koalitionsspielen. Mal übernimmt die Union die Deutungshoheit, mal der Wahlsieger, die SPD.

FDP und Grüne geben sich als die Königsmacher – was sie de facto auch sein werden. Die traute Viersamkeit von zwei Spitzen-Grünen und zwei Spitzen-Liberalen, verpackt in ein Selfie, geht viral. Die Schlagzahl ist hoch, die mediale Aufmerksamkeit riesig – sei es von professionellen Journalisten oder von Bloggern. Von den vielen Kommentatoren in den Twitter-Blasen oder auf Instagram und Facebook ganz zu schweigen.

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Soziale Medien gab es noch nicht, als „Glogo“, wie der Braunschweiger Glogowski genannt wird, 1978 in den Landtag einzog. Nur die CDU und die SPD kamen damals ins Parlament, die FDP scheiterte an der 5-Prozent-Hürde. Die CDU erzielte vor gut 40 Jahren satte 48 Prozent der Stimmen, die SPD starke 42. Echte Volksparteien eben. Die Grünen gab es noch nicht einmal, die Linken und die AfD auch nicht.

Glogowski blickt auf 25 Jahre als Landtagsabgeordneter, Innenminister und Ministerpräsident zurück. Er stand diverse Wahlkämpfe und Koalitionsverhandlungen durch. Eine Unübersichtlichkeit wie jetzt erlebte er nicht. „Zu meiner Zeit war das anders“, sagte er.

Glogo und die Alphatiere

Glogo war damals von politischen Alpha-Tieren umgeben: CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht, der Vater von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Später dann Gerhard Schröder, Christian Wulff, Thomas Oppermann, Jürgen Trittin oder Sigmar Gabriel. Langweilig wurde es auch damals nicht.

Das politische Spitzenpersonal in einem großen Bundesland wie Niedersachsen hatte gefühlt mehr Format als das heutige im Bund. Kein Wunder, dass Niedersachsen oft das Sprungbrett für eine Polit-Karriere im Bund wurde.

Heute hat einer wie Glogowski sogar Mitleid mit dem Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet. Weil Glogo anderes gewohnt war. „Nach so einem langen und schweren Wahlkampf, wie Laschet ihn führen musste, will man als Politiker nicht so schnell aufgeben. Er will die Niederlage in Koalitionsverhandlungen drehen. Das ist aber aussichtslos. Laschet wird zur tragischen Figur“, sagte Glogowski mit der Weisheit aus einem langen Politiker-Leben.

Laschet erinnert stark an Gerhard Schröder, der seine Niederlage 2005 auch nicht wahrhaben wollte. Nur sind wir da wieder beim Format. Schröder hatte damals Franz Müntefering an seiner Seite, der ihm schnell, eindeutig und schonungslos signalisierte: Hör auf, das bringt nichts mehr!

Laschet scheint keinen Müntefering zu haben, nur Konkurrenten. Die Union ist nach 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels ein Scherbenhaufen, ausgelaugt.

Die Sozialdemokraten stehen auf einmal wie eine Eins

Doch zur Wahrheit gehört auch: Diesen Wahlausgang hätte man der SPD noch vor zwei Monaten nie und nimmer zugetraut. Politik ist schnelllebiger geworden, Umfragen sowieso. Was zählt, ist der Wahlabend, nichts sonst. Das hat man zuletzt auch bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gesehen. In unserem Nachbarland drehte die CDU auf den letzten Metern noch den Vorsprung der AfD. Zum Glück, möchte man sagen.

Überhaupt ist die politische Landschaft seltsam verworren und unübersichtlich geworden. In den Bundesländern gibt es so ziemlich jegliche nur erdenkliche Landesregierung: Jamaika, Ampel, Rot-Grün-Rot, Groko – alles drin.

Der Süden, einst tiefschwarz, bekommt immer mehr grüne Sprenkel. In den Großstädten der Republik werden die Grünen auch immer dominanter. Der Norden Deutschlands ist wieder stärker rot gefärbt. Der Osten ist oft blau: Die AfD holt zuweilen 30 Prozent und mehr. Hier spielen die Grünen kaum eine Rolle, mal ist die SPD auf dem Rückzug, mal die CDU.

Und dann wird es auch im Bund zum ersten Mal auf ein Dreierbündnis zulaufen. Ein absolutes Novum, ein kleines Experiment. Von italienischen Verhältnissen sind wir aber noch weit entfernt – gieren wir Deutschen doch gerne nach Konstanz und Stabilität. Gehen wir einfach mal davon aus, dass es eine stabile Ampelkoalition geben wird. Oder halt Jamaika.

Volk lechzt nach starken Führungsfiguren

Ein FDP-Chef Christian Lindner weiß, dass er nicht schon wieder Sondierungsgespräche – wie vor vier Jahren – zum Platzen bringen kann. Das wäre sein politisches Todesurteil. Unter Druck stehen aber auch Robert Habeck, Annalena Baerbock, Armin Laschet, Markus Söder und Olaf Scholz. An der sonst so launigen Diva SPD dürfte es dieses Mal aber nicht scheitern. Die Sozialdemokraten stehen wie eine Eins. Oder wie ein Spargel, wie Glogowski einst den Zusammenhalt der Kommunen in Nordwest-Niedersachsen beschrieb.

Es tut gut, zu hören, dass sich FDP und Grüne in ihren Vorgesprächen vorgenommen haben, ein „Projekt“, ein übergeordnetes Thema zu finden. Nachhaltige Politik gab es in den letzten Jahren nicht mehr. Merkel rief wiederholt eine Modernisierung aus, ein Zeitalter der Digitalisierung. Es kam nur nichts. Dabei muss gesagt werden, dass sich den Merkel-Regierungen Krisen in den Weg stellten: die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, der Abgas-Skandal, die Corona-Krise. Es wäre schön, wenn ein Dreierbündnis ohne große Krise durchregieren könnte.

Das Volk lechzt nach einer Vision, nach starken Führungsfiguren mit Weitblick und Gestaltungswillen. Olaf Scholz und Armin Laschet sind Pragmatiker. In einem Dreierbündnis braucht es aber gerade diesen Pragmatismus.

Erfreulich ist, dass unsere Region in einem Dreierbündnis ordentlich mitmischen dürfte. Vor allem in einer Ampelkoalition. Dann wird der Peiner Hubertus Heil (SPD) höchstwahrscheinlich wieder ein Ministeramt übernehmen. Auch der Göttinger Konstantin Kuhle (FPD), der in Wolfenbüttel geboren wurde, wird eine gute Rolle spielen. Er ist trotz seiner jungen 32 Jahre bereits innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion.