Das Vertrauen in die Wissenschaft, das selten größer war als heute, ist gerechtfertigt. Aber durch falsche Erwartungen nimmt es Schaden.

Als Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und sein Wissenschaftsminister Björn Thümler vor einem Jahr das Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung besuchten, wurde man als Pressevertreter Zeuge eines interessanten Gesprächs. Der heute einem breiten Publikum bekannte Braunschweiger Systemimmunologe Michael Meyer-Hermann hatte den Gästen gerade erklärt, wie er mittels computergestützter Modelle mögliche Szenarien der Corona-Pandemie errechnet. Da fragte der Ministerpräsident den HZI-Forscher: „Welche Entscheidungsgrundlage können Sie mir bieten? Wie hoch ist Ihre Trefferquote?“ Die Antwort war bemerkenswert: „Ich beantworte das nicht“, sagte Meyer-Hermann selbstbewusst. Es gehe nicht um Treffer. Seine Rechnungen seien valide, aber in die Zukunft blicken könne er nicht: „Ich mache Prognosen – ausgehend von konkreten Zahlen und in Abhängigkeit von bestimmten Annahmen und Variablen.“

Was sagt uns diese Szene über die Macht der Virologen, Epidemiologen und Immunologen, über die in dieser Pandemie so viel geredet und geschrieben wurde? Was über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik?

Zunächst zeigt es, dass Wissenschaft und Politik zwei paar Schuhe sind – und bleiben müssen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber dem ist längst nicht mehr so. Denn von der Macht der Virologen reden nicht nur Wirrköpfe, die von der Corona-Diktatur der Virologen und Epidemiologen schwadronieren. Es war die Wochenzeitung „Die Zeit“, die vor gut einem Jahr fragte, ob der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten, „unser neuer Kanzler“ ist. Und es ist ja auch etwas dran. Die Naturwissenschaftler sind starke Stimmen in der Pandemie – und sie finden Gehör.

Die gleiche „Zeit“ raunt aber nun, jetzt werde die Wissenschaft „von der Realität widerlegt“. Warum? Weil die letzten Modellrechnungen der Forscher die glücklicherweise sinkenden Infektionszahlen nicht korrekt vorausgesagt haben. Zugespitzt könnte man sagen: Man wirft der Wissenschaft enttäuscht vor, dass sie „nur“ Wissenschaft ist und keine allumfassenden Handlungsanleitungen liefert, die man – zu unrecht – von ihr erwartet hat. Dabei kennen gerade gute Forscher die Grenzen ihrer Erkenntnis. Siehe die eingangs beschriebene Szene im HZI.

Wenn Wissenschaftler falsch gesteckte Erwartungen nicht erfüllen, muss man fragen: Woher kommen diese Erwartungen? Woher der Heldenkult, den nicht zuletzt die betroffenen „Star-Virologen“ befremdlich und überzogen finden? Der regionale Stolz – dass nicht irgendwer dort bei Lanz und Co. im Studio sitzt, sondern „unsere Melanie Brinkmann“ – ist sicher nicht das Problem.

Ein zentraler Grund ist wohl die große Sehnsucht nach klaren Ansagen in einer enorm unsicheren Situation. Der Wunsch ist verständlich, gerade aus Sicht der politischen Entscheidungsträger. Hat die Pandemie sie doch vor völlig neue, ernste Fragen und Entscheidungen gestellt. Tatsächlich leistet die Wissenschaft einen riesigen Beitrag, Unsicherheit abzubauen, und ermöglicht der Politik bessere Entscheidungen.

Das Vertrauen in die Wissenschaft, das selten größer war als heute, ist gerechtfertigt. Aber durch falsche Erwartungen nimmt es Schaden. Etwa in Form der etwas merkwürdigen Enttäuschung der „Zeit“ über die „widerlegten“ Modell-Szenarien.

Vertrauen in Wissenschaft kann und darf kein Ersatz sein für eine verantwortliche, vertrauenswürdige Politik. Aber dafür müssen wir der Politik etwas zutrauen. Und dazu passt nicht der Wunsch nach einer „wissenschaftlichen“, an objektiven Kriterien orientierten Steuerung unserer Gesellschaft, wie er in Wunschvorstellungen vom Corona-Bundeskanzler Drosten anklingt.

Eine „rein wissenschaftliche“ Politik wäre eine Horrorvorstellung. Sie liefe auf genau jenen Mangel an politischer Reibung und Auseinandersetzung hinaus, den viele schon heute aus gutem Grund leid sind. Der Eindruck von Alternativlosigkeit schadet der Demokratie. Vor allem wäre eine solche Politik ein krasser Missbrauch der Autorität der Wissenschaft.

Keine Forscherin und kein Forscher, mit denen ich als Wissenschaftsjournalist zu tun habe, wünscht sich das. Im Gegenteil, keiner von ihnen möchte in der Haut der Verantwortlichen stecken, die immer wieder abwägen, entscheiden und sich für ihre Entscheidungen rechtfertigen müssen.

Aber manche Wissenschaftler liefern eben doch auch Rezepte. Etwa die „No Covid“-Initiative. Zusammen mit einem Dutzend weiterer Forscher verschiedener Disziplinen schlagen Melanie Brinkmann und Michael Meyer-Hermann (der, der dem Ministerpräsidenten die Grenzen seiner Rechenmodelle aufzeigte) einen regionalen Inzidenzen-Unterbietungswettbewerb mit zeitlich beschränkten, dafür sehr konsequenten Corona-Maßnahmen vor. Obwohl die beiden Braunschweiger Forscher gefragte Politikberater auf Bundes- wie auf Landesebene sind, hat sich die Politik für einen anderen Weg entschieden.

Wurde die Wissenschaft deshalb in Deutschland zu wenig gehört, wie Brinkmann im Podcast-Gespräch gegenüber unserer Zeitung beklagt? Schwierig zu sagen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist es wohl sicher, dass viele Infektionen und Corona-Tote vermieden worden wären, hätte die Politik im letzten Herbst härtere Kontaktbeschränkungen beschlossen. Aber politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich ist die Rechnung weniger eindeutig. Was bedeuten die Maßnahmen an Grundrechtseingriffen? Stoßen die Maßnahmen auf genügend Unterstützung in der Bevölkerung, ja in der eigenen Partei?

Fakt ist: In der Pandemie hat die Bedeutung der wissenschaftlichen Expertise für die Politik enorm zugenommen. Angesichts gigantischer Herausforderungen wie der Klimakrise spricht alles dafür, dass ihre Bedeutung weiter zunimmt. Die Grenzziehung zwischen den beiden Sphären wird dadurch nicht einfacher. Trotzdem war sie nie wichtiger.