„Im Kern geht es darum, die Durchsetzung des Rechts nicht nur zu behaupten oder taktisch zu reklamieren, sondern auch faktisch durchzusetzen.“

Es gibt einige wenige Grundsätze, nach denen ein Gemeinwesen funktionieren kann. Dazu gehören Dinge wie Identität und Identifikation, denn wie sollte man sich sonst zugehörig fühlen zu etwas, das man guten Gewissens als Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten bezeichnen könnte? Wie sollte man einmal notwendige Opfer für andere bringen können, wenn man sich ihnen nicht zugehörig fühlt?

Dazu gehört auch Solidarität. Wie sollte man solidarisch sein, also gleiche Rechte fordern und einfordern, wenn man gar nicht mitfühlen möchte, wenn man gar gleichgültig ist, egoistisch? Das Wesen der aufgeklärten Kultur liegt in der Erkenntnis, dass nicht der Stärkere siegt, sondern Vernunft und Menschlichkeit, das verzichtende Mitfühlen als Ausstieg aus Rachsucht, Bereicherung, Einschüchterung und schließlich Überfall, Raub und Totschlag.

Aber das ist nicht alles. Das funktionierende Gemeinwesen, das eben gerade kein rechtsfreier Raum für die Skrupellosen ist, kein Ort, wo der Ehrliche der Dumme ist, es braucht gemeinsam akzeptierte Spielregeln – und vor allem solche dafür, was zu tun ist, wenn dagegen verstoßen wird. Würde dieses Gemeinwesen zwar seine Normen für alle verbindlich aufstellen, Verstößen gegenüber aber gleichgültig, halbherzig oder überfordert reagieren, hätte es das aufgegeben, was es im Innersten zusammenhält.

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Insofern war es ein gutes Signal, das in dieser Woche Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) gegen Clankriminalität aussendete. Erinnern wir uns an die Definition durch die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Braunschweig: Clankriminalität ist Loyalität gegenüber patriarchalen Familienstrukturen und Leugnung staatlicher Autorität. Auf den Punkt gebracht: Der Clankriminelle beansprucht das Gewaltmonopol für die eigene Familie. Als Gesetz akzeptiert er höchstens eines, das des Schweigens.

Wenn wir nun noch klären, dass es mir persönlich vollkommen gleichgültig ist, aus welchem ethnischen, nationalen, politischen, sozialen, religiösen, berufskriminellen oder sonstwie gearteten Umfeld solche Familien, Gruppen oder Banden kommen, dann haben wir uns verstanden.

Interessant war es ja, dass der Innenminister in dieser Woche Clankriminalität in Braunschweig schon ausgemacht hatte, bevor die Ermittler in Polizei und Staatsanwaltschaft überhaupt noch Beweise dafür hatten. Auch das ist übrigens nicht ganz regelkonform, denn die Regeln des Rechtsstaats fordern bekanntlich Sorgfalt und das Ausräumen von Zweifeln, bevor es zu Urteilen kommt.

Was war geschehen? Erst hatte es eine Schlägerei mit Schreckschusspistole im Kassenbereich eines Supermarktes in der Braunschweiger Weststadt gegeben, dann waren offenbar die Fronten zwischen Angreifern und Verteidigern vertauscht worden – und es hagelte wenig später und nicht weit davon entfernt tatsächlich scharfe Schüsse auf einen mit drei Mann besetzten Wagen. Ein Projektil traf dabei zufällig die Frontscheibe einer gerade passierenden Straßenbahn in Höhe des Fahrers. Der kam mit dem Schrecken davon.

Innenminister Pistorius tat indes auch gut daran, festgemacht ebenfalls an einem zweiten aktuellen Fall in Visselhövede, gewissermaßen proaktiv niedersächsische Härte gegen Clankriminelle zu reklamieren. Unbewältigt ist beispielsweise die deprimierende Lage in Berlin, wo die Polizei zuletzt knapp 400 aktive Clankriminelle zählte. Die sollen im vergangenen Jahr mehr als 1000 Straftaten begangen haben – einschlägig vertreten sind Verkehrsstraftaten, Drogendelikte, Gewalttaten. Innensenator Andreas Geisel (SPD) erklärte im März bei der Vorlage des Lagebildes zur Clankriminalität, man befinde sich bei der Bekämpfung noch am Anfang. Da fragten sich dann manche, ob dieser Anfang nicht doch etwas spät kommt.

Anders Pistorius, dem man Erfolg wünschen möchte. Immerhin ist er bereits seit 2013 Innenminister, 2018 hatte Niedersachsen eine „Landesrahmenkonzeption zur Bekämpfung krimineller Clanstrukturen“ in Kraft gesetzt. Beim niedersächsischen Lagebild zur Clankriminalität hatte Pistorius bereits im Juni 2020 von einer „offenen Konfrontation“ gesprochen samt Bedrohung von Rechtsstaat und Freiheit.

Bleibt es indes nicht bei Lippenbekenntnissen, dann reicht die begrüßenswerte Errichtung von vier niedersächsischen Schwerpunktstaatsanwaltschaften nicht aus. Dann müssen Ressourcen und Personal so angepasst und aufgestockt werden, dass Spezialisten in Polizei und Justiz auch wirklich die ganze Arbeit tun können. Im Kern geht es darum, die Durchsetzung des Rechts nicht nur zu behaupten oder taktisch zu reklamieren, sondern auch faktisch durchzusetzen.

Falls das Beispiel aus Braunschweig nämlich tatsächlich mustergültig taugt, dann vor allem deswegen, weil hier die Polizei derartig blitzartig und massiv auf der Szene erschien, dass die Verdächtigen sofort oder etwas später festgenommen werden konnten. Vier Verdächtige befinden sich bereits in Untersuchungshaft. Vorgänge von dieser Art gelten gemeinhin als förderlich für das öffentliche Sicherheitsempfinden, vermutlich wirksamer als Ankündigungen, denen keine Taten folgen.

Ohnehin machen weitere Ereignisse der Woche klar, wie wichtig, aber auch fragil die Akzeptanz von Entscheidungen ist, die im Interesse der Gemeinschaft getroffen werden. Dabei fällt es zunächst einmal schwer zu begreifen, wie sich Bund und Länder im gemeinsamen Kampf gegen die Corona-Pandemie gegenseitig paralysiert haben. Es ist ein Zeichen, dass vertraute demokratische Institutionen und Prozeduren in Zeiten einer bislang nicht gekannten Herausforderung auch an ihre Grenzen stoßen können.

Im Resultat sind sowohl die Lockdowner als auch die Lockerer mit ihrem Latein am Ende. Manchmal wissen sie jetzt schon selbst nicht mehr, auf welcher Seite sie gerade stehen. Es gibt eine Antwort auf diese Erschütterung, eine, die jetzt jeder selbst geben kann: Vernunft kann man nicht verordnen. Man muss sie zeigen.