Braunschweig. „Auch in ganz wichtigen Fußballspielen geht es immer nur um drei Punkte und die Konsequenzen des Handelns. Zumindest ganz nüchtern betrachtet.“

Der Fußball ist nur selten um Zuspitzungen verlegen: das Duell des Jahres, das Sechs-Punkte-Spiel, die Woche der Wahrheit. Derartige Begrifflichkeiten lassen sich heutzutage so inflationär und an unpassenden Stellen lesen, dass sie an Bedeutungskraft einbüßen.

Aber Zuspitzungsfreunden steht eine interessante Phase bevor, denn auf die beiden größten Fußballklubs unserer Region, Eintracht Braunschweig und VfL Wolfsburg, warten jeweils exakt solche Duelle des Jahres, Sechs-Punkte-Spiele und Wochen der Wahrheit.

Das mit der Wahrheit im Fußball ist aber so eine Sache. Verliert die Eintracht etwa am Sonntag beim VfL Osnabrück, ist sie dann in Wahrheit zu schlecht für die 2. Bundesliga? Hagelt es für die Wolfsburger am Samstag bei Eintracht Frankfurt eine Pleite, sind sie dann ungeeignet für die Champions League? Nein und nein. Beide Mannschaften haben selbst nach Niederlagen noch alle Chancen aufs Erreichen ihrer Ziele; und sie haben auch im Erfolgsfall noch alle Chancen, diese zu verpassen.

Es geht darum, ein negatives Erlebnis abzuschütteln

Ganz nüchtern betrachtet geht es für alle Teams in einem Spiel immer nur um drei Punkte. Nicht mehr, nicht weniger. Und damit ist die Wahrheit im Fußball nichts weiter als eine Konsequenz von Handlungen, verbunden mit der Aufforderung, eine gute Serie aufrechtzuhalten und ein negatives Erlebnis abzuschütteln.

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Vor genau dieser Aufgabe stehen die Braunschweiger in dieser Woche. Das 0:2 am Ostermontag in St. Pauli war verdient und förderte zugleich mehrere Erkenntnisse zutage. Wenn so viele tragende Säulen wie Jannis Nikolaou, Brian Behrendt, Danilo Wiebe, Dong-Won Ji und Fabio Kaufmann fehlen, dann kann das Mannschaftsgebilde nicht fest stehen. So viele Ausfälle und Unwägbarkeiten mit der Corona-Abstinenz des Home-Office-Trainers Daniel Meyer, der im blau-gelben Trikot im eigenen Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, hätte wohl kaum ein anderes Team ohne Qualitätsverlust verkraftet.

Eintracht muss das Positive beim 0:2 auf St. Pauli ziehen

Die Reaktion der Spieler nach dem frühen 0:2 aber darf nicht nur bei Co-Trainer Thomas Stickroth für Zuversicht sorgen. Denn spätestens in Hälfte zwei hatten sie sich mit den Umständen und in der neuen Zusammensetzung gefunden. Das war zu spät, um bei den starken Hamburgern zu punkten; aber längst nicht zu spät, um daraus noch Positives für die nächste wichtige Aufgabe zu ziehen.

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Dazu firmieren die Rückkehrer Wiebe, Behrendt und Ji als personifizierte Hoffnungsträger, auch Martin Kobylanski und Suleiman Abdullahi sind auf dem Weg zurück zu alter Stärke. Dass die beiden zuvorderst genannten Abwehrspieler wieder an Bord sind, sollte den Blau-Gelben ihr größtes Plus der vergangenen Wochen zurückgeben: die defensive Stabilität. Darauf fußte der Braunschweiger Lauf vor der Niederlage bei St. Pauli mit einigen Punktgewinnen. Und darauf ruht die Hoffnung auf den Klassenerhalt im Liga-Endspurt, der in Osnabrück bei einem direkten Konkurrenten beginnt.

Auf den VfL Wolfsburg hätte keiner für die Champions League gewettet

Auch die Wolfsburger treffen auf einen solchen. Am Samstag steigt das Duell der großen Überraschungs-Mannschaften, wenn der Tabellendritte VfL beim -vierten in Frankfurt antritt. Wer vor der Saison auf diese beiden Klubs als Qualifikanten für die Champions League gewettet hat, der darf sich langsam, aber sicher auf einen satten Gewinn vorbereiten.

Die Spurensuche nach dem Erfolgsgeheimnis der Grün-Weißen ist nicht besonders herausfordernd, dieses liegt auf der Hand. Es ist die defensive Stabilität, die auch den Braunschweigern einen Lauf beschert hatte. In der VW-Stadt brachte Oliver Glasner dieses Konzept im Sommer 2019 zu seinem Dienstantritt mit. Nach und nach passte es der Trainer im Diskurs mit seiner Mannschaft an, ließ sich auf Veränderungen seiner Fußball-Idee ein und gab den Spielern im Baukasten-Prinzip mehr und mehr Elemente mit. Noch heute ist die defensive Organisation das Erfolgsfundament, mittlerweile aber angereichert durch ansehnliche und Gefahr für den Gegner erzeugende Angriffsmuster. Die Kontinuität auf der Trainerbank zahlt sich aus, Glasners Wirken wird immer deutlicher. Die Tür zur Königsklasse steht bei elf Punkten Vorsprung auf Dortmund weit offen. Der VfL muss die Schwelle nur noch überschreiten. Aber das ist leichter gesagt als getan.

VfL-Trainer Glasner wagt sich aus der Deckung

Der Trainer, der nicht nur auf dem Rasen, sondern auch in der öffentlichen Kommunikation lange einen defensiven Umgang pflegte, wagte sich nun aus der Deckung mit einer angriffslustigen Metaphorik. „Wenn man nur nach hinten schaut“, sagte Glasner nach dem 1:0-Sieg gegen Köln, „ist die Gefahr des Stolperns viel größer, als wenn man auf das schaut, was vor einem liegt.“ Mehr Gewinnen wagen statt Verlieren verhindern.

Es steht für die Eintracht und auch für den VfL ein sehr, sehr wichtiges Wochenende an, das Fans und Interessierte über eine Phase gedanklich wegführen kann von den pandemischen Sorgenfalten. Nun, da Teststrategien, Impfpässe und Ausgangssperren die Vokabeln unseres Alltags sind, hat der Fußball die Kraft, mit Spielstrategien, Doppelpässen und Gelbsperren für wohltuende Ablenkung zu sorgen. Zugegeben: Vor einem Jahr hatte ich ihm diesen Einfluss nicht zugetraut.

Fußball nimmt eine gesellschaftliche Sonderrolle ein

Dass der Fußball dafür eine gesellschaftliche Sonderrolle einnimmt, ist unbestritten. Die Akteure müssen die ihnen gewährten Privilegien sorgsam und verantwortungsvoll behandeln. Viele tun es, einige nicht, was für berechtigten Zorn sorgt. Allein in Wolfsburg leisteten sich schon mehrere Spieler Verfehlungen, die vom Verein sanktioniert wurden, was für nervige Schönheitsflecken auf der sportlich herausragenden Saison sorgt. Besserung wird gelobt.

Zurück auf den grünen Rasen und zu den bevorstehenden Spielen, in denen es wie immer nur um drei Punkte geht und allein um die Konsequenzen des Handelns. Zumindest ganz nüchtern betrachtet. Wer nun aber empfänglich ist für Zuspitzungen, der darf sich freuen auf Duelle des Jahres, Sechs-Punkte-Spiele und Wochen der Wahrheit, auf Doppel- statt Impfpässe und Ablenkung von den Sorgen - immerhin über 90 Minuten.