„Der Begriff der Systemrelevanz darf nicht reduziert werden zum Blick nur auf die Großen.“

Die schweigende Mehrheit, sie zerfasert, zersplittert. Zermürbt von Corona, zermürbt von Lockdown und Homeoffice, Impfpannen, persönlichen Enttäuschungen, Unverschämtheiten politischer Entscheidungsträger wie jüngst in der Maskenaffäre. Zermürbt vor allem von Perspektivlosigkeit, die durch den politischen Schlingerkurs in der Corona-Krise genährt wird. Die Konsequenz: Politische Strömungen wie die Querdenker erhalten Zulauf, andere Menschen ballen (noch) die Faust in der Tasche, resignieren oder flüchten sich in Spott.

Das gesellschaftliche Klima ist vielerorts dauergereizt – egal, ob auf der Straße, im Supermarkt oder bei den Schularbeiten im heimischen Wohnzimmer. Für Letzteres sorgt übrigens auch oft die Schule selbst. Eltern erleben eine Spreizung in der Unterrichtsqualität, die von hoch engagiert bis Totalausfall reicht. Diese Bandbreite darf es bei staatlichen, von Steuergeldern finanzierten Einrichtungen schlicht nicht geben.

Ventile zum Dampfablassen sind immer häufiger willkommen, Wut oftmals das neue Normal. Das Schlimmste: Das Vertrauen vieler Menschen in die Entscheidungskraft und Glaubwürdigkeit der Politik, aber auch in öffentlichen Institutionen ist zerstört oder zumindest gestört.

Wo ist der gesellschaftliche Kitt?

Das macht es für die engagierten unter den Volksvertretern schwer, so etwas wie gesellschaftlichen Kitt zu formen oder die Mehrheit hinter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen. Auch das raubt Perspektive – dabei ist Perspektivlosigkeit doch eines der gefährlichsten Gifte. Und das in einer Zeit, in der in der politischen Diskussion immer noch viel zu selten über das Leben und Wirtschaften nach Corona gesprochen wird.

Dabei sieht es doch so schlecht gar nicht aus in Deutschland. Der VW-Konzern zum Beispiel hat in der vergangenen Woche nicht nur sehr ordentliche Geschäftszahlen samt Milliardengewinn für das vergangene Jahr bestätigt. Die Strategie für die nächsten Jahre ist zwar überaus ehrgeizig, aber nicht abwegig und könnte das Unternehmen zu neuer Größe führen. Bei der Salzgitter AG ist der Verlust im vergangenen Jahr nicht so deutlich ausgefallen wie zunächst befürchtet. Auch dort lief es also besser als erwartet. Und der Vorstand hat mit seinem freiwilligen Gehaltsverzicht ein wichtiges Signal gesetzt.

Allerdings wäre es fatal, den Blick in der Krise nur auf die Dickschiffe zu lenken. Also auf jene, die ohnehin zu groß sind, als dass sie die öffentliche Hand einfach sterben lassen würde. Auf jene, die mit eigenen Lobbyisten, Marketing- und Rechtsabteilungen trainiert sind, das Optimum für das Unternehmen zu erreichen. Längst sind sie so etwas geworden wie ein Staat im Staat, eine Art Paralleluniversum, das immer mächtiger wird und oft mächtiger ist als der Staat.

Der Begriff der Systemrelevanz darf nicht reduziert werden zum Blick nur auf die Großen. Die wirtschaftlichen und persönlichen Schicksale in mittleren, kleinen und Kleinstbetrieben sind nicht weniger Wert als die in den Konzernen. Nur dass diese Menschen kaum eine Stimme haben, allenfalls über ihre Sprachrohre der Kammern und Verbände gehört werden.

Trotzdem sind sie wichtig, systemrelevant – Gerüst und Nervensystem von Gesellschaft und Wirtschaft. Zum Beispiel wenn es um Innovationen geht, die häufig im Mittelstand entwickelt werden. Systemrelevant ist auch der Friseursalon auf dem Dorf. Weil er Arbeit gibt, Treffpunkt ist und Bestandteil der Lebensqualität in vielen ohnehin zunehmend verödenden ländlichen Gemeinden. Schließt solch ein Salon, dann kommt er meist nicht wieder. Das oft beklagte Verkümmern der Dörfer zu reinen Schlafstätten würde beschleunigt.

Die Gefahr einer solchen Entwicklung ist als Folge der Corona-Krise groß. Egal, ob auf dem Dorf oder in der Stadt. Kleine Unternehmen haben keine eigene Rechtsabteilung, keine eigenen Lobbyisten. Der Chef oder die Chefin ist für alles zuständig – und das oft nach Feierabend. Sie erleben eine tiefe Enttäuschung und ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, weil der Staat, der ihre Betriebe geschlossen hat, in vielen Fällen nun auch sehr zögerlich, zu zögerlich ist mit den angekündigten Hilfsgeldern.

Nicht wenige bekommen von ihren Steuerberatern, über die die Anträge auf Staatsgeld laufen müssen, die Aussage, dass zuerst größere Unternehmen an der Reihe sind. Das ist die Hackordnung der Not. Die tut nicht nur finanziell weh, sondern ist für den einzelnen demütigend. Die Faust in der Tasche krallt sich noch fester zusammen.

Etliche Unternehmer und Geschäftsinhaber, für die das Rentenalter näher rückt, überlegen sich daher, den Betrieb aufzugeben. Aus Frust, aus Angst vor Überschuldung kurz vor der Zielgeraden. Eine fatale Entwicklung, weil Steuereinnahmen, Arbeitsplätze, Lehrstellen wegbrechen und von Verbitterung ersetzt werden.

Fakten werden gebogen

Ebenso fatal ist an vielen Stellen, allen voran den digitalen Kommunikationskanälen, die Diskussionskultur. Zu oft steht in der politischen Auseinandersetzung nicht die Suche nach der besten Lösung im Vordergrund, sondern das Verteidigen der eigenen oder das Anstreben einer neuen Machtstellung.

Um dieses Ziel zu erreichen, werden Fakten gebogen, der politische Kontrahent stigmatisiert, statt ihn ausreden zu lassen und bessere Argumente zu finden. Vergleichsweise harmlos sind noch die Beispiele in der Lockdown-Debatte und dem Länder-Bund-Gerangel; der ideologische Grabenkampf gewinnt mit den Themen Klimaschutz und Migrationspolitik zunehmend an Schärfe, ohne wirklich an Lösungen zu arbeiten.

Die sind aber dringend erforderlich, wenn wir ans Leben nach Corona denken. Wir müssen reden, wir müssen ehrlich sein, wir dürfen unser Gegenüber nicht vernichten wollen, sondern müssen gemeinsam nach der besten Lösung suchen. Corona ist wie ein Sandstrahler, der alle Roststellen unserer Gesellschaft freilegt. Die Reparatur drängt.