„Corona ist eine schwere Belastungsprobe unseres Bildungssystems und jedes seiner Akteure.“

Corona hat viele beunruhigende Seiten. Hätten wir uns vorstellen können, dass Maskenpflicht und Lockdown zu einer Art Sturm des Bundestages führen könnten? Dass Mitbürger aus der Mitte der Gesellschaft Bundesregierung und Regierungen der Länder mit Diktatoren vergleichen? Dass Wissenschaftler als Betrüger denunziert werden? Dass man seriöse Medien zu Propaganda-Helfern erklärt, weil sie sich nicht zur Speerspitze des Querdenkertums machen? Dass die Polizisten, die den friedlichen Verlauf der Demonstrationen sicherstellen, als Werkzeuge der Angst diffamiert werden, weil sie einer möglichen Eskalation in Schutzkleidung gegenübertreten, die natürlich nicht aussieht wie ein Sommeranzug?

All das könnte man als Ausdruck einer überhitzten Atmosphäre interpretieren, man möchte zur Gelassenheit raten. Aber je näher uns die beunruhigenden Seiten von Corona kommen, desto schwerer fällt diese Gelassenheit.

Viele von uns schicken ihre Kinder jeden Tag zum Schulbus und versuchen dabei, sich ihre tiefe Sorge gegenüber Maja und Fietje nicht anmerken zu lassen. Corona ist eine schwere Belastungsprobe unseres Bildungssystems und jedes seiner Akteure, vom Weg in die Schule bis hin zu den Gebäuden und zum Unterricht selbst, von den Schülern und Lehrern bis zu den Eltern und sogar zu deren Arbeitgebern.

Fragen auch Sie sich jeden Morgen, warum wir unsere Kinder in volle Busse setzen, obwohl doch Kontaktreduzierung das Gebot der Stunde ist? Machen auch Sie sich Sorgen, was im Gedrängel passieren könnte, Maske hin, Abstandsversuche her? Können wir das eigentlich verantworten, wenn sich die Corona-Infektionen nun auch bei uns in Norddeutschland häufen? Wundern Sie sich, dass ein Kultusminister Schülern angesichts der verordneten Intensivlüftungen rät, sie sollten einen Pullover mitnehmen, den Schulträgern aber nichts zum Einbau von Lüftungsanlagen mitzuteilen weiß? Oder warum sich alle Kultuspolitiker mit Händen und Füßen gegen geteilte Klassen oder komplettes Homeschooling wehren?

Machen wir es anders als die Querdenker und suchen nach vernünftigen Gründen. Antwort, erster Versuch: Unsere Kinder lernen in der Schule am besten. Man kann das als Kompliment an unsere häufig unterschätzten Lehrerinnen und Lehrer verstehen. Ganz offensichtlich schaffen sie es in den Klassenräumen, die Schülerinnen und Schüler zu erreichen – mit Persönlichkeit, gutem pädagogischem Handwerk, in sozialer Interaktion.

Dass Homeschooling ein kümmerlicher Notbehelf blieb, haben wir durch gepflegtes Nichtstun erreicht. Der Schulbetrieb steht seit dem ersten Lockdown im März unter Corona-Vorbehalt. Dennoch fehlt es an digitaler Didaktik nach wie vor fast überall – ebenso wie an brauchbarem Equipment, bei Schülern wie Lehrern.

Die Kultuspolitik alleine verantwortlich zu machen, wäre nicht fair. Wir alle hatten ja über Jahrzehnte geglaubt, Fernunterricht sei bloß was für Farmkinder in den verlassensten Gegenden Australiens. Kritikwürdig ist die Veränderungsgeschwindigkeit. Seit März mühen sich Lehrer, Schüler und Eltern um Lösungen und bleiben dabei häufig allein.

Antwort, zweiter Versuch: Die Schulen sind auch Wirtschaftsfaktor. Die Dienstpläne vieler berufstätiger Eltern sind auf die Verlässlichkeit der Schule gegründet. Da wird der Präsenzunterricht zum Produktionsmittel. Weil die Wirtschaft bisher so weit wie möglich vom Lockdown ausgenommen ist – und das ist gut so –, müssen auch die Schulen offenbleiben.

Antwort, dritter Versuch: Ein Teil der Wissenschaft hält Kinder für weniger verletzlich, so weit es Covid-19 betrifft. So richtig einig sind sich die Virologen allerdings nicht. Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann, der sich von einem eigenen Beraterteam unterstützen lässt, berichtet von leidenschaftlichen Streitgesprächen in seinem Gremium. Man kann es erstaunlich finden, dass die These, Kinder würden zu den weniger Vulnerablen gehören, dennoch politische Wirkung zeigt.

Antwort, vierter Versuch: Schule ist für viele Kinder weit mehr als nur Unterricht. Wenn sie aus Familien kommen, die sehr arm sind, wenn sie aus zerrütteten Elternhäusern stammen oder solchen, in denen die Eltern Deutsch von ihren Kindern lernen, dann ist die Schule eine Leiter. Über sie kommen die Kinder zu Chancen, die nur für die anderen selbstverständlich sind.

Ein sehr engagierter Mann, Träger des Gemeinsam-Preises der Braunschweiger Zeitung und des Braunschweiger Doms, sagte diese Woche zu mir: „Wenn die Schulen drei Monate lang geschlossen wären, würden wir diese Kinder verlieren.“ Diese Qualität von Schule – die an sozialen Brennpunkten sehr viel mehr Unterstützung verdienen würde – wird in den Vierteln der Bessergestellten unterschätzt. „Schulen sind der Anker für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft“, sagt die GEW-Vorsitzende Laura Pooth. Besser kann man es nicht ausdrücken.

Niedersachsen hat sich gerade dazu durchgerungen, 45 Millionen Euro in den Corona-Schutz der Schulen zu stecken. 20 Millionen für Plexiglas und Lehrer-Masken, in begründeten Ausnahmefällen sogar Lüftungsanlagen. Es sollen 5000 pädagogische Kräfte auf Minijob-Basis eingestellt werden, was auf ein paar Arbeitsstunden pro Woche und Schule hinausläuft.

Ob diese Maßnahme Sorgenfalten glättet und den Schulen wirklich hilft? Minister Tonne muss wissen, dass das Paket viel zu spät kommt und deutlich zu klein ausfällt. Selbst als symbolhafte Anerkenntnis der Probleme ist es zu schwach.

Schule braucht mehr Unterstützung, das ist eine offensichtliche Lehre aus Corona. Mir persönlich wäre deshalb wohler, wenn Menschen für bessere Arbeitsbedingungen für Lehrer und Schüler auf die Straße gingen, anstatt eine Stoffmaske zum Angriff auf die persönliche Freiheit hochzureden: Der Kampf für bessere Schulen ist automatisch ein Kampf für die bessere Zukunft des ganzen Landes.