„Die EU darf nicht länger nur zusehen. Die Türkei ist wirtschaftlich verletzlich, nicht nur wegen der Corona-Krise.“

Das Urteil gegen den deutschtürkischen Journalisten Deniz Yücel ist alles andere als überraschend. Es ist das Ergebnis einer Justiz, die sich zu oft als Erfüllungsgehilfin des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan begriffen hat. Die Entscheidung wirft ein Schlaglicht auf den Erdogan-Staat. Die Medien sind fast ausnahmslos auf Regierungslinie getrimmt. Viele Journalisten, die nur ihren Job machen wollten, sitzen im Gefängnis. Tausende Richter, Beamte und Lehrer sind in Haft.

Auch in der Außenpolitik tritt Erdogan immer aggressiver auf. Erst intervenierten seine Truppen in Nordsyrien, dann in Libyen. Zusammen mit seinem autokratischen Bruder im Geiste, Russlands Präsident Wladimir Putin, hat er einen De-facto-Pakt über die Aufteilung des nordafrikanischen Landes geschlossen. Es geht um Öl- und Gasinteressen sowie milliardenschwere Aufträge, wenn nach dem Bürgerkrieg die Zeit für den Wiederaufbau angebrochen ist.

Hinzu kommt ein machtpolitischer Hebel. Wenn Erdogan und Putin in Libyen das Sagen haben, sind sie auch die Herren über die Flüchtlingsströme. Der türkische Staatschef hat keine Skrupel, auch im Maghreb „das Tor zu öffnen“, wenn er damit politische Vorteile von der EU erpressen will. Wie das funktioniert, hat er im Februar bereits an der Grenze zu Griechenland vorexerziert.

Die EU darf nicht länger nur zusehen. Die Türkei ist wirtschaftlich verletzlich, nicht nur wegen der Corona-Krise. Sie braucht Touristen ebenso dringend wie ausländische Investitionen. Brüssel sollte die von Ankara gewünschte Erweiterung der Zollunion als Verhandlungschip nutzen. Gezielte Aktionen sind gefragt. Dazu gehören auch Sanktionen gegen Firmen und Personen, die das Waffenembargo in Libyen brechen. Die Türkei – aber auch Russland – muss einen Preis dafür bezahlen.