„Wenn es nur noch um ,Wurst oder Soja‘ geht, wird ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger die Festungsanlagen der Fleischwirtschaft bemannen.“

„Wer einen guten Braten macht, hat auch ein gutes Herz.“ Wilhelm Busch

Nun dachten wir, wir hätten mit Corona schon jede Form des Durcheinanders, Gegeneinanders und Übereinanders erlebt. Die Masseninfektion in Rheda-Wiedenbrück belehrt uns eines Besseren. Dort hat das Unternehmen eines bedeutenden Fleischproduzenten und Sportmäzens zu spät auf die Warnsignale reagiert, wonach in Schlachtbetrieben mit besonderer Ansteckungsgefahr zu rechnen ist. Das Corona-Virus überlebt bei den niedrigen Temperaturen in den Schlachthäusern länger, und häufig sind die Beschäftigten in Quartieren untergebracht, in denen Abstand schwer zu halten ist. Von massiver Überarbeitung der Beschäftigten ist die Rede, von Überstunden, die auf keinem Lohnzettel auftauchten. Vieles davon ist mehr Verdacht als Gewissheit. Jeder weiß etwas, Aussagen ehemaliger Mitarbeiter finden Verbreitung, auch wenn sie kaum überprüfbar sind. Klar ist: Mehr als 1500 Tönnies-Mitarbeiter sind infiziert.

Ministerpräsident Armin Laschet, den Politsportinteressierte nur noch nach seinen Aussichten bewerten, Kanzlerkandidat der Union zu werden, schäumt. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) denkt laut über Regressansprüche gegen Tönnies nach. Und die Landräte von Gütersloh und Warendorf finden es unverschämt, dass ihre Bürger nun um ihren Sommerurlaub fürchten müssen.

Das Elend des Föderalismus auf den Punkt gebracht

Tatsächlich bezahlen die Menschen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf die Zeche. Auch wenn sie mit Tönnies nichts zu tun haben und in einem Ort wohnen, in dem keine Tönnies-Mitarbeiter wohnen: Für sie gelten Einschränkungen, die denen ähneln, die wir alle im März auszuhalten hatten. Und zur Urlaubszeit ist bei vielen die Erholung unter Attest-Vorbehalt gestellt. „Herkunft stigmatisiert“, schrieb eine Zeitung.

In viele deutsche Urlaubsregionen dürfen sie nur dann reisen, wenn sie nachweisen können, dass sie nicht infiziert sind. An den Testzentren bilden sich lange Schlangen, Menschen warten den ganzen Tag. Viele von Ihnen müssen die Schönheit der bayerischen Alpen oder der norddeutschen Küsten möglicherweise mit dem frugalen Charme des Vogelsbergkreises tauschen – Hessen hat nämlich weniger Angst vor der Ansteckung, was das Elend des Föderalismus in Zeiten schneller Entscheidungen auf den Punkt bringt.

Tönnies ist einer der Großen im Lande NRW

Die Empörung der Gütersloher und der Warendorfer ist nachvollziehbar. Die ihrer politischen Vertreter schon weniger. Es ist ja in Fällen hochschlagender Wellen fast immer interessant, die Motivationslage der Wellenschläger zu ventilieren. Da kann der Protest eines Landrates verdächtig erscheinen. Nach dem nordrhein-westfälischen „Gesetz zur Regelung besonderer Handlungsbefugnisse im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler oder landesweiter Tragweite und zur Festlegung der Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz“ vom 14. April 2020 kommt den Kreisbehörden als untere Gesundheitsbehörden besondere Verantwortung zu. Dass sie im Falle Rheda-Wiedenbrück weiträumig umgangen wurde, liegt nahe. Man hat dem Virus und den Arbeitsbedingungen bei Tönnies viel Zeit gelassen, ihre fatale Kombinationswirkung zu entfalten. Und auch die Landesregierung muss sich, Schaum hin, Kanzlerkandidatur her, fragen lassen, ob sie das Risiko nicht hätte erkennen und drastisch handeln müssen.

Das entlastet das Unternehmen Tönnies nicht von seiner Verantwortung, wirft aber die Frage nach der Qualität behördlichen Handelns auf. Haben wir es hier mit Überforderung, Schlamperei oder noch Schlimmerem zu tun? Hat man sich nicht getraut, genauer hinzusehen, weil Tönnies einer der Großen im Lande NRW und im Fleischgeschäft ein Titan ist?

Munition gegen den Fleischkonsum als solchen

Die Experten sind sich weitgehend einig, dass der Corona-Ausbruch mit den Zuständen in der Fleischverarbeitung zusammenhängt. Viele der Branche drücken durch Subunternehmer die Kosten, die Mitarbeiter sind häufig so etwas wie die Wanderarbeiter unserer Tage. Hubertus Heil empört sich zurecht und ist dabei viel glaubwürdiger als viele andere Akteure auf der Desaster-Bühne. Er tut viel für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, vom Zustelldienst bis zur Pflegebranche. Heil sollte aber nicht so tun, als seien seinem Ministerium die Realbedingungen der deutschen Großschlachter gerade eben erst bekannt geworden. Auch in Berlin hat man sich lieber in der Kunst des periskopischen Um-die-Ecke-Sehens geübt, als mit der notwendigen Härte gegen die Ausbeutung von Arbeitnehmern vorzugehen. Vielleicht wird es jetzt besser – alles andere wäre ein Skandal.

Leider wird aus dem konkreten und daher vergleichsweise einfach zu behebenden Missstand gerade die Munition gegen den Fleischkonsum als solchen gewonnen. Klima- und Tierschützer rühren Tönnies und Seinesgleichen in einen Fleischtopf mit handwerklich arbeitenden Schlachtern oder mit Landwirten, die zivil züchten und mästen. Selbst solche mit Bioland-, Naturland- oder Demeter-Siegel kriegen ihr Fett weg. Ob den Fleischfrei-Propagandisten bewusst ist, dass sie der Billigfleisch-Industrie die Chance eröffnen, ungeschoren davonzukommen?

Eine Qualitätsdebatte fehlt

Wenn aus dem Streit um das Wie einer tier- und umweltschonenderen Fleischproduktion eine Debatte wird, die aus Steakfreunden untermenschliche Übeltäter macht, wird sich kaum eine durchschlagende Veränderung organisieren lassen. Denn wenn es nur noch um „Wurst oder Soja“ geht, wird ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger die Festungsanlagen der Fleischwirtschaft bemannen.

Was fehlt, ist eine Qualitätsdebatte. Sie würde allen helfen – den Tieren, den Landwirten, und den Verbrauchern, die zu höheren Preisen Fleisch bekommen würden, das nicht mehr nach Panik und Profit schmeckt. Gar nicht weit entfernt, in der Schweiz, kann man sehen, wie es geht und dass es geht.