„Verantwortliche sind greifbar und nah. Misserfolge können nicht delegiert werden.“

Deutschlands demokratische Mentalität ist ein Sonderfall, zumindest bezogen auf die westlichen Nationen. Es gibt hier eine weit verbreitete Aversion gegen Streit und scharfen Ideenwettbewerb, gern als „Zank“ abgewertet. Allenthalben wird Sehnsucht nach Ruhe, Eintracht und Harmonie sichtbar, in Umfragen ebenso wie bei vielen professionellen Beobachtern. Einigkeit wird so zum Wert an sich, das politische Leitmotiv ist eher Risikovermeidung als das beherzte Ergreifen von Chancen.

Es ist müßig, über die historische Genese des politischen Gemüts der Deutschen zu spekulieren. Unter Historikern zirkuliert die verspätete Nationalstaatswerdung ebenso als Erklärung wie die Heranziehung des dreißigjährigen Krieges, der als eine Art intergenerationales Trauma den Wunsch nach unbedingter Einmütigkeit und Einheitlichkeit generiert habe. Zumindest könnte die Tatsache, dass das durch Klein- und Mittelstaaten geprägte Deutschland just zu dem Zeitpunkt den Anschluss verlor, als sich in Europa das Modell des Nationalstaates durchzusetzen begann, erklären, weshalb das Anprangern des Föderalismus breite Bevölkerungskreise und weite Teile der Spitzenpolitik vereint.

Fest steht aber, dass in der jüngeren Geschichte ein politisch plurales und föderales Deutschland am besten gefahren ist und übergroße Einigkeit und Zentralisierung hierzulande eher kein Erfolgspfad waren. Trotzdem ist der Föderalismus stets unter Beschuss. Steht er dem Durchregieren aus dem Bund im Weg, wird das oft mit Augenrollen quittiert. Die vertikale Gewaltenteilung wird dann nicht als urdemokratischer Mechanismus wahrgenommen, sondern als Bremsklotz missverstanden.

Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die Bildungspolitik. Getrennte Finanzierung, unterschiedliche Lehrpläne, Schulformen und Ferienkalender sind der populärste Anlass, nach einem national einheitlichen Modell zu rufen. Aber wäre ein solches einheitliches Bildungssystem wirklich besser? Die heimliche Grundannahme ist ja, dass ein bundeseinheitliches System automatisch die Quersumme der besten Ideen aus den Ländern wäre, nur ohne die Missstände, Fehler und Irrwege, die es dort immer wieder gibt. Aber das ist ein Trugschluss. Da es keinen Vergleich, kein Probieren und kein Wettrennen um die besten Ergebnisse gäbe, sondern nur ein realexistierendes Modell, wäre auch die Inspiration verschwunden, die heute auch der lokal strauchelnden Bildungspolitik auf die Sprünge hilft. Ideologische Stilblüten wie das Schreiben nach Gehör würden unterschiedslos überall eingeführt, ohne dass es eine rechte Ahnung gäbe, dass ohne diese Methode das Lernergebnis doch wesentlich besser ausfällt. Solches Wissen entsteht erst im Ländervergleich.

Der Föderalismus schafft auch Verantwortlichkeit: Ein lokaler Bildungsminister muss dafür anstelle eines fernen Sündenbocks geradestehen. Verantwortliche sind greifbar und nah. Misserfolge können nicht delegiert werden.

Auch in den Krisen der letzten Jahre hat der Föderalismus eine gute Figur gemacht und die Performance der Bundesregierung des Öfteren übertroffen. So wurde die Migrationskrise dezentral aufgefangen. Zahlreiche engagierte Landesregierungen, -parlamente, Landräte und Bürgermeister haben erst ermöglicht, dass der große Zustrom der Jahre 2015 und fortfolgende nicht direkt in massenhafte Obdachlosigkeit und Shanty Towns mündete. Nur mit Weisungen aus der Hauptstadt wäre diese Leistung nicht geglückt.

Auch in der Corona-Krise erweist sich der Föderalismus als leistungsfähig: Während die Bundesregierung sehr lange eher untätig blieb, um schließlich nach einer abrupten Wende schwerstes Geschütz aufzufahren, erprobten einzelne Bundesländer bereits wirksame Maßnahmen. Auch jetzt, wo es gilt, aus dem Ausnahmezustand wieder herauszufinden, bringen die Länder die praktikabelsten Ideen hervor. Das schließt Ab- und Irrwege naturgemäß nicht aus, aber so wie von den Best-Practice-Beispielen gelernt werden kann, fällt auch der Schaden bei Fehlern geringer aus, weil er auf einzelne Bundesländer begrenzt bleibt.

Weshalb wochenlang das Mantra vorgetragen wurde, dass alle Maßnahmen in jedem Winkel der Bundesrepublik zu jedem Zeitpunkt gleich sein müssten, ist schwer zu erklären: Schließlich sind die Gegebenheiten vor Ort gänzlich unterschiedlich. Eine Maßnahme, die an der Müritz Sinn ergibt, kann im Ruhrgebiet kontraproduktiv sein, und umgekehrt. Trotzdem hat die zwanghafte Föderalismuskritik dazu geführt, dass auf dem Zenit der Corona-Krise die bundesweite Gleichförmigkeit und -zeitigkeit der Maßnahmen beinahe wichtiger schien als deren Wirkung. Wir wissen aber schon, dass Deutschland mit seinem föderalen Maßnahmenkonzert in der Krise gut gefahren ist. Dieser Befund gilt für das Land im Allgemeinen. Es gibt generell keine Evidenz, dass der Föderalismus der Moderne nicht gewachsen wäre. Die Globalisierungsära hat unter den Nationen Aufsteiger und Absteiger produziert. Dass aber der Zentralismus zwingend zum Erfolg führt, lässt sich nicht belegen. Freilich gilt das auch für das Gegenteil. Bundesstaatlichkeit allein ist noch kein Garant für politischen und ökonomischen Erfolg.

Allerdings passt der Föderalismus als Prinzip viel besser zu den Tendenzen unserer Zeit: Gesellschaften werden immer vielfältiger, traditionelle Autoritäten schwächer, Milieus befinden sich in Auflösung. Es koexistieren und konkurrieren nicht mehr zwei oder drei geschlossene Weltanschauungen. Stattdessen ergibt sich eine fragmentierte Collage aus Überzeugungen und Zielen, welche in ständiger Neuordnung und Bewegung ist. Diese gewachsene Vielfalt bedeutet auch, dass sich die Gegensätze zwischen Stadt und Land und Regionen vergrößern. In gewisser Weise gleicht dieser Wandel dem Übergang von den klassischen linearen Medien zum Internet: So dezentral, chaotisch, unübersichtlich, kreativ und eruptiv wie das Netz sind die freien Gesellschaften der westlichen Demokratien auch geworden. Zusammenhalten lässt sich das nicht durch zentralistisches Zusammenzwingen, sondern durch echte „Einheit in Vielfalt“, um das Europamotto zu zitieren.

Europa ist ebenfalls ein wichtiges Stichwort für eine Föderalismusdebatte: Die Bundesrepublik sieht sich als Pionier eines föderalen Europas und wirbt für diese Idee. Wie sollen eigentlich die Skeptiker für diesen Traum gewonnen werden, wenn schon daheim der Föderalismus nichts gilt?