„Die Corona-Krise könnte in Erinnerung bleiben als Wendepunkt einer Volkswirtschaft, deren Belastungsfähigkeit von den politisch Verantwortlichen massiv überschätzt wurde.“

„Arbeitnehmer dürfen nicht zu Opferlämmern einer verfehlten Politik gemacht werden.“Ursula Engelen-Kefer

Hinaus zum 1. Mai? Von wegen. Zum ersten Mal seit 1949 fanden auf Deutschlands Plätzen keine Mai-Kundgebungen statt. Corona auch hier. Der Deutsche Gewerkschaftsbund streamte in seiner Not Konstantin Wecker, Heinz Rudolf Kunze und noch ein paar Helden der Kleinkunst.

Das Motto des 1. Mai 2020 passt zu dieser Verlegenheitslösung: „Solidarisch ist man nicht alleine.“ Wie wahr und doch so trivial. Was soll denn das heißen in der tiefsten Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte?

Corona macht auch den Gewerkschaften die Arbeit schwerer. Verunsicherte Mitglieder wollen beraten und vertreten werden, obwohl der klassische Betrieb kaum möglich ist. Darf man dem Gewerkschaftsbund ankreiden, dass seine Reaktion auf die Ausnahmesituation seltsam unproportioniert wirkt? Man darf. Man muss es sogar.

DGB-Chef Reiner Hoffmann hat sich gerade im Interview zur Kurzarbeit gemeldet. Er spielt in der Diskussion über Corona und wie es weitergeht aber sonst kaum eine Rolle. Auch die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften melden sich entweder nicht zu Wort oder werden nicht gehört. Es mag ein wenig billig sein, an die gute alte Zeit zu erinnern. Tatsache ist, dass allein der DGB zur Zeit eines Heinz Oskar Vetter völlig anders aufgetreten wäre.

Ein Tag der Arbeit in einer Zeit, in der viele nicht arbeiten dürfen. In der die Zahl der Kurzarbeiter steigt und steigt. In der Existenzen wanken. In der die Politiker mit viel Geld viel Gutes tun, um die Folgen des Shutdowns einer Volkswirtschaft zu mildern. Ein Tag der Arbeit, an dem aber auch festzustellen ist: Bundesregierung und Länderkabinette haben in der Corona-Krise schnell und konsequent den Stecker gezogen, sie haben damit den Vormarsch des Virus gebremst. Aber sie scheinen noch nicht verstanden zu haben, dass Corona inzwischen vor allem eine Wirtschaftskrise bedeutet.

Die Politik verhält sich, als könne man so lange auf der Bremse stehen bleiben, wie es die Infektionsraten diktieren. Sie hat erkennbar keinen Plan, wie der Stillstand und seine Folgen überwunden werden könnten. In der politischen Diskussion, nicht nur im Bund, dreht sich fast alles um Hilfsprogramme. Das ist gefährlich. Denn finanziell haben wir das Ende der Fahnenstange schon erreicht. Die Lage ruft nach einem kraftvollen Auftritt der mächtigsten Arbeitnehmerorganisation der Welt. Es hat aber fast den Anschein, als wäre dieser Auftritt abgesagt wie das Wacken-Open-Air.

Apropos Schwermetall: Eine Ausnahme von der Unsichtbarkeit gibt es. Und sie ist so auffällig, dass sie hier erwähnt werden sollte. In Wolfsburg, wo die IG Metall 90.000 Mitglieder hat, mehr als in irgendeiner anderen Gliederung, machen Gewerkschafter vor, wie man mitgestalten kann. Im Jahr 2020, mitten im grundlegenden Wandel der Arbeitswelt, im Betrieb und auf der politischen Bühne.

So hat der Volkswagen-Betriebsrat mit dem Management ein Wiederanlaufprogramm gestaltet, das Maßstäbe für die deutsche Industrie setzt. Es geht hier darum, die Produktion möglich zu machen –und dennoch soll das Virus so wenig Chancen wie möglich haben. Der Schutz der Gesundheit der Mitarbeiter steht an erster Stelle, für diese Mission wird erheblicher Aufwand getrieben. In einer Branche, in der normalerweise um jedes Prozent Produktivität hart gekämpft wird, hat man die Paradigmen gewechselt.

So ging es in diesem Jahr natürlich nicht. Bernd Osterloh auf der Maikundgebung Helmstedt vor einem Jahr.
So ging es in diesem Jahr natürlich nicht. Bernd Osterloh auf der Maikundgebung Helmstedt vor einem Jahr. © Michael Strohmann | Michael Strohmann

Zum 1. Mai hatte Betriebsratschef Bernd Osterloh einen Brief geschrieben, der an Klarheit und Fokussierung alles übertrifft, was DGB und Einzelgewerkschaften zu diesem Tag der Arbeit äußern. Osterloh erinnert die Politik an ihre Pflicht, die Wirtschaft rasch wieder in Gang zu bringen. Und das ist bitter nötig.

Man kann es nur wiederholen: Die Kosten des Shutdowns überschreiten die Grenzen des Beherrschbaren. Das Steuergeld und die Mittel unseres Sozialsystems verschwinden mit beängstigender Geschwindigkeit im Loch, das der Stillstand reißt. Und immer mehr Unternehmen, große und kleine, verzehren ihre Substanz.

Wenn sich die Diskussion weiterhin in der Frage der Öffnung von Möbelhäusern erschöpft, dann wird die Corona-Krise in die deutsche Wirtschaftsgeschichte nicht eingehen als bestandene Bewährungsprobe, in der sich eine Gesellschaft solidarisch und organisiert gegen den Angriff des Virus stellte. Sie wird in Erinnerung bleiben als Wendepunkt einer Volkswirtschaft, deren Belastungsfähigkeit von den politisch Verantwortlichen massiv überschätzt wurde.

Das zu verhindern, ist die vornehmste Aufgabe auch der deutschen Gewerkschaften. Sie können von Osterloh, dem Co-Manager aus Wolfsburg, sehr viel lernen.

Dieser Text wurde am Feiertag als Wochenkommentar auf NDR-Info gesendet.