„In unser aller Interesse bleibt zu hoffen, dass die Allianz von Wissenschaft und Politik in der Corona-Krise hält.“

Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.
Molière (1622-1673), franz. Dramatiker

Lothar Wieler hat uns allen Hoffnung gemacht: Ein mit dem Coronavirus infizierter Mensch stecke seit einigen Tagen im Durchschnitt nur noch einen weiteren Menschen an, sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) am in Berlin. Das sei ein erstes Zeichen für die Eindämmung der Corona-Epidemie und die Wirksamkeit der Kontaktsperre. Dennoch bleibe es zentrales Ziel, die Ausbreitung der Infektionen weiter zu verlangsamen. „Wir stehen am Anfang dieser Epidemie, wir dürfen jetzt mit diesen Regeln nicht nachlassen“, appellierte Wieler.

Seit Donnerstag wissen wir, dass das bundesweite Kontaktverbot mindestens noch zwei weitere Wochen Bestand haben wird. Gleichwohl hält die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine Lockerung nach den Osterferien für möglich. Denkbar sei, dass Kontaktverbote weniger strikt umgesetzt werden, wenn dies „mit dem flächendeckenden Tragen von Mund-Nasen-Schutz“ einhergehe, erklärten die Wissenschaftler in einer Stellungnahme. Regierungssprecher Steffen Seibert hingegen trat auf die Bremse: „Es ist ganz wichtig, gerade auch über die Ostertage, dass wir alle zusammen diese Einschränkungen weiter durchhalten.“

Werden sich die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern dazu durchringen, den Shutdown mit unabsehbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen über den 19. April hinaus zu verlängern? Gibt es eine Exit-Strategie – und wie wird diese aussehen? Angela Merkel und ihr Kabinett, Ministerpräsident Stephan Weil und seine Ministerriege stehen vor sehr existenziellen Fragen; ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Da ist einerseits eine – zumindest für Risikogruppen – absolut tödliche Gefahr. Wir müssen gar nicht bis Norditalien, sondern nur bis Wolfsburg blicken, um uns das vor Augen zu führen: 27 Tote binnen einer Woche im Hanns-Lilje-Heim sind eine Tragödie. Andererseits bedroht der Shutdown die wirtschaftliche Existenz vieler Unternehmen, Selbständige sind als erste betroffen. Wie werden unsere Innenstädte nach der Krise aussehen, welche Händler und Gastronomen können überleben? Die vielfältigen staatlichen Hilfen kommen langsam ins Rollen – und das tut dringend Not.

Stand heute gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass dieser beispiellose Shutdown richtig ist. In unserer Demokratie geht die Unversehrtheit von Leib und Leben vor wirtschaftlichen Interessen. Die Entscheidungsträger handeln rational, lassen sich im besten Sinne beraten, vertrauen der Wissenschaft. RKI-Präsident Wieler zählt jetzt zu den wichtigsten Beratern der Bundesregierung. Virologen und Epidemiologen wie Christian Drosten, Alexander Kukulé oder Hendrik Streeck, Koryphäen auf ihren Fachgebieten, scheinen ebenfalls pausenlos im Austausch mit Politikern zu sein.

Drosten erntete allerdings auch schon denselben Hass, dem sich Politiker immer häufiger ausgesetzt sehen: Er sei persönlich für den mutmaßlichen Suizid des hessischen Finanzministers Thomas Schäfer verantwortlich. Der CDU-Politiker war heute vor einer Woche tot an einer Bahnstrecke aufgefunden worden. Drosten ist es auch, der immer wieder auf das Dilemma hinweist, das in all den Fernsehtalks und auch in vielen Beiträgen dieser Zeitung zutage tritt: Wie weit lassen sich komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge vereinfachen, ohne sie fachlich zu verfälschen?

In unser aller Interesse bleibt zu hoffen, dass die Allianz von Wissenschaft und Politik in der Corona-Krise hält. Was anderenfalls geschehen kann, ist in den USA zu besichtigen. Redakteure der „Frankfurter Allgemeinen“ haben sich die Mühe gemacht, 30 Aussagen Donald Trumps zum Coronavirus aus der Zeit zwischen Januar und April zusammenzustellen. Am 10. Februar sagte der Präsident: „Es sieht so aus, als müsste es im April vorbei sein. Wenn es wärmer wird, verschwindet es auf wundersame Weise.“ Am 1. April sagte er schließlich: „Amerika führt weiterhin einen totalen Krieg, um das Virus zu besiegen – dieses fürchterliche, fürchterliche Virus. Man sieht, wie schrecklich es ist, wenn man sich die Zahlen von gestern anschaut.“ Neben Trump-typischem Selbstlob („Wir haben die besten Umfragewerte von allen für so eine Sache.“) gab der US-Präsident am 6. März eine bemerkenswerte Selbsteinschätzung ab: „Ich kapiere dieses Zeug sehr gut. Die Leute staunen, dass ich es verstehe. Jeder dieser Ärzte fragt: ,Warum wissen Sie so viel darüber?’ Vielleicht bin ich ein Naturtalent. Vielleicht hätte ich das machen sollen, anstatt für die Präsidentschaft anzutreten.“

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Fakt ist, dass Trumps Administration verantwortlich dafür ist, dass die USA von der Corona-Pandemie nach heutigem Stand weitaus schlimmer betroffen sein werden als Deutschland. Washington verhängte erst sehr spät konsequente Schutzmaßnahmen, es werden zudem viel zu wenige Menschen auf das Virus getestet. Ein lieber Freund und Kenner der transatlantischen Beziehungen schrieb mir zu Trumps Krisenmanagement: „Diese kurzen, simplen Sätze, diese erratischen Wiederholungen, dieses nasale New Yorker Kauderwelsch – danach muss ich immer eine Runde joggen gehen, sonst knalle ich durch.“

Gerade jetzt zeigt sich, welche grandiose Fehlbesetzung der ruchlose Multimilliardär und Egomane im Weißen Haus ist. Wie soll ein Mensch, dessen Aufmerksamkeitsspanne maximal wenige Minuten umfasst und dessen einzige Informationsquelle Fernsehnachrichten sind, komplexe humanbiologische Wirkungszusammenhänge einer globalen Pandemie auch nur ansatzweise verstehen?

Die uneitle Physikerin Angela Merkel oder der nüchterne Jurist Stephan Weil hingegen verstehen ihr Handwerk als Krisenmanager. „In der Krise beweist sich der Charakter“, hat Helmut Schmidt einmal gesagt. Unser beliebtester Bundeskanzler musste in seinem Leben immer wieder Entscheidungen über Leben und Tod treffen – als Soldat, bei der Sturmflut 1962, im Deutschen Herbst 1977. Er wusste also, wovon er sprach. Sein Satz gilt auch in der Coronakrise 2020.