„Wer Pflegeberufe attraktiver machen will, muss mehr Regler drehen als nur den der Arbeitszeit.“

Grünen-Chefin Annalena Baerbock sorgt sich um die Pflege in Deutschland. Damit ist sie nicht allein. Immer häufiger können kranke oder gehandicapte Menschen nicht versorgt werden, weil es den Einrichtungen an Personal fehlt. Für eine alternde Gesellschaft wächst ein Problem heran, das gravierend ist und bald Züge des Notstands tragen könnte. Gut, dass sich Baerbock bei den Mahnern einreiht. Nur bei der Lösung greift sie deutlich zu kurz.

Wer Pflegeberufe attraktiver machen will, muss mehr Regler drehen als nur den der Arbeitszeit. „Die Pflege“ ist heute ein komplexes Neben- und Miteinander spezialisierter Tätigkeiten. Die Fortentwicklung der Qualifikationsstandards findet noch nicht die nötige Aufmerksamkeit. Es geht hier um Fragen wie wachsenden Anspruch und neue Behandlungsmethoden. Nichtmodulare Ausbildungswege führen häufig zu einer viel zu rigiden Festlegung; Flexibilisierung und Weiterbildung tun not.

Großer Frust entsteht durch überfordernde Arbeitsbedingungen: Realitätsferne Abrechnungspraxis erzwingt selbst bei nicht profitorientierten Diensten Personalausstattungen, die Pflegende und Pflegebedürftige strapazieren. Längst nicht überall wird Technik zur Entlastung von Bürokratie und körperlicher Anstrengung ausreichend genutzt. Und natürlich geht es um anständige, wettbewerbsfähige Bezahlung. Noch immer haben Anbieter wirtschaftliche Vorteile, die ihre Mitarbeiter schlechter dotieren – während faire und im Sinne der Zukunftsorientierung verantwortlich handelnde Arbeitgeber unter Druck kommen.

Schon diese unvollständige Aufzählung zeigt: Nur komplexe Lösungsansätze sind geeignet, junge Menschen für die Pflege zu gewinnen und ältere im Beruf zu halten. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will mit einem bundesweit als verbindlich erklärten Tarifvertrag Grund in den Problemsumpf bringen. Fachleute wie Rüdiger Becker, Direktor der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, kämpfen mit bewundernswerter Hartnäckigkeit für diesen Vertrag – es ist einer der Fälle, in denen Politik und Betroffene hochkonstruktiv zusammenarbeiten. Das ist hier besonders notwendig: Mancher im Lager der Krankenkassen verabsolutiert die an sich begrüßenswerte Sparsamkeit – mit fatalen Auswirkungen auf den Weitblick. Würde sich Frau Baerbock hinter diese Initiative stellen, täte sie ein gutes Werk. Und sie würde sich nicht dem Vorwurf der Oberflächlichkeit aussetzen. Eine Arbeitszeitverkürzung zum jetzigen Zeitpunkt könnte die Attraktivität der Pflegeberufe nur in der Theorie vergrößern – in der Praxis würde alles schlimmer. Wer sollte die dann fehlende Arbeitszeit abdecken? Die Pflege verdient die Wertschätzung der Gesellschaft und braucht Verbesserungen mit Konzept, Augenmaß und Nachdruck. Eine flotte Forderung zwischendurch wird nicht reichen.