„VW muss sich fragen lassen, warum die Zahlungsbereitschaft mehr als vier Jahre reifen musste.“

Raffiniert – anders kann der Schachzug von VW nicht bezeichnet werden. Fast viereinhalb Jahre lehnte der Autobauer Entschädigungen für VW-Besitzer in Deutschland ab, die einen vom Abgas-Betrug betroffenen Diesel fuhren. Aber dann, quasi im Handstreich, dreht das Unternehmen den Spieß um und will aus der Rolle des kundenfernen, raffgierigen Konzerns, der er für viele geworden war, in die eines Robin Hood schlüpfen. Das zeugt von Chuzpe.

Hunderttausende Kunden in Deutschland klagen gegen VW, weil sie die Argumente aus Wolfsburg nicht akzeptieren, dass die Abgas-Manipulationen keinen Schaden verursacht hätten. Zumal VW in den USA ja Schadenersatz gezahlt hat. Mit dem Musterfeststellungsverfahren vor dem Oberlandesgericht, in dem der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) stellvertretend für mehr als 400.000 VW-Kunden klagt, ist Braunschweig Schauplatz eines der wichtigsten Verfahren.

Schon früh regte das Gericht Vergleichsverhandlungen an, denen VW schließlich zustimmte. Gestern platzten die Gespräche; VW ist nicht bereit, Anwaltskosten, die das Unternehmen für überzogen hält, zu begleichen. Stattdessen sollen die 830 Millionen Euro, über die sich VW mit dem VZBV als Entschädigung bereits verständigt hat, in einem außergerichtlichen Vergleich an VW-Besitzer ausgeschüttet werden.

Der Rollentausch: Den Anwälten des VZBV wird von VW – zurückhaltend formuliert – Raffgier unterstellt, die letztlich Schatten auf den VZBV wirft. In dieser Rolle befand sich zuvor VW. Der VZBV weist die Vorwürfe prompt zurück und wirft VW vor, sich gegen eine vertrauenswürdige Abwicklung gesperrt zu haben. Der Autobauer wiederum zeigt sich trotz jahrelanger Verweigerung plötzlich generös und will zahlen.

Dafür müssten die Kunden auf ihr Klagerecht verzichten. VW könnte also hinter vielen Fällen einen Haken setzen und hätte Ruhe. Für die Kunden hätte eine rasche Entschädigung Charme, weil mit fortlaufender Prozessdauer die Gefahr besteht, dass auch bei einem juristischen Sieg über VW am Ende nichts übrig bleibt. Denn nach aktueller Rechtsauffassung wird die Nutzungsdauer und der damit verbundene Wertverlust eines Autos bei der Festlegung des Schadenersatzes gegengerechnet. Ob die Kunden darauf anspringen, wird die nahe Zukunft zeigen.

VW muss sich fragen lassen, warum die Zahlungsbereitschaft mehr als vier Jahre reifen musste. Mit einer freiwilligen Entschädigung, die wohl weit unter den aktuell genannten 830 Millionen Euro gelegen hätte, hätte VW frühzeitig aufgebrachte Kunden besänftigen können. Festzuhalten bleibt auch, dass erst eine zeitnahe Gesetzgebung dafür gesorgt hat, dass ein Musterverfahren möglich wurde und die Kunden – so oder so – Schadenersatz erhalten. Der Staat hat in diesem Fall echte Bürgernähe bewiesen.