„Selbst wenn sich Europa außenpolitisch zusammenraufen würde: Sicherheit in Europa bedarf des Partners auf der anderen Seite des Atlantiks.“

Es wird in Zukunft keine politischen Lösungen von Wichtigkeiten mehr
geben, außerhalb von Bündnissen,
Sicherheitssystemen und Gemeinschaften.Willy Brandt

Streit kommt in den besten Familien vor. Man muss sich deshalb nicht allzu viele Sorgen machen – solange allen Beteiligten klar ist, was sie verbindet. Das Wissen um die gemeinsame Basis überbrückt selbst breite Risse.

So konnten sich am vergangenen Wochenende über 20.000 Menschen auf dem Braunschweiger Schlossplatz versammeln, um anlässlich des AfD-Bundesparteitags gegen Fremdenfeindlichkeit zu demonstrieren. Hätte man auf einer Karte die unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen und gesellschaftlichen Verortungen farbig markiert, die Karte wäre ziemlich bunt geworden. Da standen konservative Bürger mit festem Glauben an Gott und die Marktwirtschaft neben knallharten Kommunisten, stramme Grüne mit fahrradgestählten Waden neben solchen, die die Ausfahrt in Hochleistungsautomobilen lieben, „Omas gegen rechts“ neben jungen Familien, frei floatende Lebenskünstler neben Schichtarbeitern.

Man sollte die Tiefe und Belastbarkeit des Konsenses so unterschiedlicher Menschen und Gruppen nicht überschätzen, zumal er durchaus nicht alle Geneigten erreichte. Es gab nicht wenige, die gerne gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen wären, dies aber nicht gemeinsam mit Anhängern von Organisationen am linken Rand tun wollten, die einer totalitären Ideologie folgen.

Dennoch: Das Bekenntnis zu einer weltoffenen, toleranten Stadt und Region hat viele Menschen zusammengeführt. Es ist mit der Vereinzelung vielleicht doch noch nicht so weit gekommen, wie manche befürchten. Der Grundkonsens unserer Gesellschaft hat hier ein kraftvolles Lebenszeichen gegeben; das stolze Wort von der Wertegemeinschaft würde hier, trotz zum Teil gravierender Unterschiede, durchaus passen.

Wertegemeinschaft ist ein Begriff, den man häufiger in einem ganz anderen Kontext hört, dem des westlichen Militärbündnisses. Es steckt in einer tiefen Krise, weil die gemeinsame Basis aus dem Blick geraten ist. Man könnte die Nato für ein Zweckgebilde mit begrenzter Strahlkraft halten. Der Nordatlantikpakt ist eine Versicherung auf Gegenseitigkeit, eine Verbindung zur gemeinsamen Abwehr äußerer Gefahren. Als Kind des Kalten Krieges war sie aber immer auch Ausdruck gemeinsamer Werte, geeint durch Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft. Nato-Gegner empfanden dies als ideologische Überhöhung einer Machtmaschinerie. Aber solange auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ein Block von totalitären Regimes stand, war die Wertebasis wesentlicher Stifter von Identität und Akzeptanz, bei Politik wie Bürgern.

Die Welt ist seither sehr viel unübersichtlicher geworden. Der ehemals bipolare Globus wird heute aus einer ganzen Reihe von Machtzentren heraus bewegt. China trat als Supermacht auf den Plan. Regionale Mächte wie Indien, Iran und die Türkei agieren abseits globaler Sicherheitssysteme. Russland müht sich um die Bewahrung des geostrategischen Erbes der Sowjetunion. Und der Kern der Nato hat so weit an Dichte verloren, dass Befürchtungen wachsen, der Nordatlantikpakt könnte sich in Staub auflösen wie die Opfer des Thanos in Marvels Film-Epos „Endgame“.

Steht die Nato vor dem Zerfall? Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit seinem Wort vom „Hirntod“ scharfe Reaktionen ausgelöst. Wie viel Widerspruch lag in diesen Reaktionen – und wie viel Erschrecken, dass einer die Wahrheit so unverblümt ausspricht? Tatsache ist, dass die Nato stets von der Bindungskraft gemeinsamer Interessen lebte. USA und Europäer suchten, den anderen an sich zu binden, und beide waren überzeugt, dass sie ohne die Nato weniger sicher wären. Das war vor der Hinwendung der USA zum Pazifik und lange vor dem Einzug des Pöbelprinzen Donald Trump ins Weiße Haus. Seit er die Unberechenbarkeit zum Hauptmerkmal seiner Außen- und Sicherheitspolitik gemacht hat, werden die Zentrifugalkräfte des Bündnisses für jedermann sichtbar.

Aber ist die Nato „hirntot“, wie Macron sagt? Der türkische Präsident Erdogan, niemals um eine Pöbelei verlegen, erklärte kurzerhand Macron selbst für den Hirntoten. Dabei illustriert Erdogan mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Kurden im syrischen Grenzgebiet in schrillen Farben, was Macron meint. Noch schlagendere Beweise für Macrons These stammen aus dem Weißen Haus. Keine der erratischen Wendungen der Trump’schen Außenpolitik nahm Rücksicht auf die Interessen der Partner, auf ihre Zustimmung oder gar auf die Kompatibilität mit mit dem Wertefundament der Nato. Das reicht vom Handelskrieg mit China bis zum Rückzug aus dem syrischen Teil Kurdistans, durch den Trump seine besten Verbündeten im Kampf gegen die islamistischen Mörderbanden des IS verriet. Seine Amoralität schlägt die meisten Schurken aus den Thrillern von Tom Clancy, Frederick Forsyth oder John le Carré um Längen. Und hier handelt nicht der KGB oder irgendein fanatischer Mordbube, sondern der Führer der freien Welt.

Diese Zumutungen sind so massiv, dass sie auch zum Geburtstag der Nato nicht ausgeblendet werden konnten. Dass es zu keiner weiteren Eskalation kam, ist ein Verdienst der deutschen Bundesregierung. Verbindende Diplomatie ist eine Tradition unserer Nachkriegsgeschichte, auf die wir stolz sein können. Aber keine Diplomatie kann das Bekenntnis zur gemeinsamen Basis ersetzen. Überzeugte Transatlantiker beruhigen sich mit der Hoffnung, dass nicht die USA, sondern nur die Trump-Administration diese Basis verlassen habe. Mit Trumps Ausscheiden werde sich alles normalisieren.

Mögen sie Recht und die Nato ihre Integrität behalten. Selbst wenn sich Europa außenpolitisch zusammenraufen, sogar gemeinsame, glaubwürdige Abschreckung organisieren würde: Sicherheit in Europa bedarf des Partners auf der anderen Seite des Atlantiks.