Moskaus wachsender Einfluss in der Region müsste den Amerikanern und den Europäern Sorge bereiten.

Eigentlich sollen jetzt die Waffen schweigen in Nordsyrien. Aber schon wenige Stunden nachdem US-Vizepräsident Mike Pence in der türkischen Hauptstadt die Einigung auf eine Feuerpause bekannt gab, fielen wieder Schüsse. Die neuerlichen Kämpfe zeigen, wie explosiv die Lage in Nordsyrien bleibt. Unklar ist zudem, was die Vereinbarung konkret bedeutet: Pence sprach von einer Waffenruhe, die türkische Seite allenfalls von einer „Pause“ der Offensive. Danach werde man die Operation fortsetzen.

Auf den ersten Blick steht Staatschef Erdogan deshalb als Gewinner da: Er bekommt einen kampflosen Rückzug der Kurdenmilizen zumindest aus Teilen der Grenzregion und wendet mit dem Deal, den er mit Pence aushandelte, die drohenden US-Wirtschaftssanktionen ab. Ob und in welchem Umfang Erdogan die erhoffte „Schutzzone“ etablieren kann, ist aber offen. Mitte November will Erdogan mit US-Präsident Donald Trump zusammentreffen. Wie sich die Situation in Nordsyrien und die innenpolitische Debatte um Trumps höchst umstrittene Syrien-Politik in den USA bis dahin entwickeln werden, ist aber ebenfalls offen.

Trump treibt unterdessen die Kurdenmiliz YPG, die bisher der wichtigste Verbündete der USA und ihrer Koalitionspartner im Kampf gegen die IS-Terrormiliz war, in die Arme des syrischen Regimes und damit von Syriens Schutzmacht Russland. Moskaus wachsender Einfluss in der Region müsste den Amerikanern und den Europäern Sorge bereiten.

Noch beunruhigender aber ist die Aussicht, dass mit dem Rückzug der YPG jetzt Tausende bisher von den Kurdenmilizen gefangen gehaltene IS-Kämpfer freikommen könnten. Deutsche Sicherheitsbehörden warnen bereits davor, dass islamistische Terroristen im schlimmsten Fall unbemerkt nach Europa kommen könnten. Auch diese Gefahr wird durch die Feuerpause nicht gebannt.