„Wenn sich dies- und jenseits des Atlantiks menschliche Abgründe auftun, dann ist es umso schöner, auch mal gute Nachrichten zu verbreiten – wie über den anonymen Spender.“

„Besser schweigen und als Narr
scheinen, als sprechen und jeden
Zweifel beseitigen.“
Abraham Lincoln (1809-1865)

Im texanischen Galveston haben zwei berittene Polizisten mit großen Cowboy-Hüten einen schwarzen Verdächtigen an einem Strick durch die Straßen geführt. Es wirkt wie eine Filmszene aus Tarantinos „Django unchained“ – als würde er zum Markt geführt, um an den Meistbietenden verschachert zu werden. Auch 154 Jahre nach dem Bürgerkrieg und dem Verbot der Sklaverei sind schwarze Amerikaner in vielen Lebensbereichen noch immer benachteiligt. Die krassen Fälle von Polizeigewalt aus den vergangenen Jahren und die entwürdigende Strick-Szene aus dieser Woche sind da nur die Spitze des Eisbergs.

Vor fünf Jahren habe ich mich auf dem Bürgerkriegs-Schlachtfeld von Gettysburg mit einem Mann aus Virginia unterhalten, der dort am Wochenende mit Gleichgesinnten Krieg spielte. In seiner grauen Südstaaten-Uniform erklärte er stolz, wie wichtig es sei, das Andenken an die Vorfahren und ihren Kampf um Selbstbestimmung zu pflegen. Denn im Bürgerkrieg sei es gar nicht um die Sklaverei gegangen; der Süden habe vielmehr um seinen Lebensstil, seine Selbstbestimmung und seine Freiheit gekämpft.

Die historischen Fakten sind anders. Doch der Sergeant der Living-History-Akteure in Gettysburg ist kein Einzelfall. Für viele weiße Amerikaner aus den Südstaaten ist die Erinnerung an die 1861 ausgerufene Rebellion und den folgenden Bürgerkrieg Teil ihrer Identität. Wer die Fahne der Konföderierten hisst, zeigt seine Gesinnung schon im Vorgarten.

Unter Donald Trumps Präsidentschaft sind Rassen-Stereotype nicht nur noch salonfähiger geworden, sie werden vom höchsten Repräsentanten des Staates beinahe täglich in die Welt hinausgetwittert. Zuletzt empfahl er vier demokratischen Politikerinnen mit Migrationshintergrund, in ihre korrupten Heimatländer zurückzugehen, um dort Probleme zu lösen. Im Wahlkampf beschimpfte er 2016 Einwanderer aus Mexiko als Vergewaltiger und Drogendealer. Im Januar 2018 nannte er Haiti und afrikanische Staaten „Drecklöcher“ – Einwanderer aus Norwegen seien ihm lieber.

Der Präsident verstärkt so ein Klima des Hasses, in dem der Entschluss eines 21-Jährigen reifte, ein Blutbad unter mexikanisch-stämmigen Menschen anzurichten. Am Sonntag schoss er im texanischen El Paso um sich. Die schreckliche Bilanz: 22 Tote, Dutzende Verletzte. Die Polizei fand ein ideologisches Manifest des mutmaßlichen Todesschützen. Wie kurz der Weg von hasserfüllten Worten zur Gewalt sein kann, ließe sich an vielen historischen Beispielen belegen.

Nun wäre Trump nicht Trump, wenn er sich nicht selbst beim Kondolenzbesuch unmöglich benommen hätte. Im Gespräch mit Rettungskräften prahlte der Präsident, zu seiner Wahlkampfveranstaltung in El Paso seien viel mehr Leute gekommen als zu der des „verrückten“ Demokraten Beto O’Rourke. Das Schicksal der Verletzten, der Angehörigen, der Rettungskräfte? Nicht so wichtig. Hauptsache ich, Hauptsache Trump, Trump, Trump.

Das Drama von El Paso kann nicht nur ein Ergebnis von Hasspropaganda sein, es zeigt ein weiteres ur-amerikanisches Problem: Warum darf ein 21-Jähriger einfach so ein Schnellfeuergewehr besitzen? Nach den Massakern von El Paso und Dayton – dort erschoss ein mutmaßlich linksradikaler Täter ebenfalls am Sonntag neun Menschen – wird der Ruf nach einer Verschärfung der Waffengesetze laut. Doch der mächtigste Verbündete der Waffenlobby sitzt im Weißen Haus, ändern dürfte sich also nichts.

Selten wurde das Recht der Amerikaner auf Waffenbesitz als so lächerlich-antiquiert entlarvt wie in der satirischen Comic-Serie „Die Simpsons“. In einer Folge sagt Protagonist Homer Simpson: „Wenn ich diese Waffe nicht hätte, könnte der König von England jederzeit hier hereinspazieren und dich herumscheuchen, wie es ihm passt! Möchtest du das?“ Der Freiheitskampf der amerikanischen Kolonisten gegen die britische Krone endete vor 238 Jahren. Das Gewaltmonopol des Staates hat sich in dieser Zeit immer noch nicht durchgesetzt.

Leider fällt es nicht nur Amerikanern schwer, aus ihrer Geschichte zu lernen. Auch wir Deutschen sind nach 1945 nicht kuriert von Hass, Hetze und Menschenverachtung. Der Braunschweiger SPD-Landtagsabgeordnete Christos Pantazis empörte sich diese Woche über Facebook-Nutzer, die sich auf der Seite der AfD-Fraktionschefin Alice Weidel munter anboten, um die Gaskammern in den NS-Vernichtungslagern zu renovieren. Dort wollten sie Migranten „unterbringen“. Mit einigem Verzug hat die AfD die Kommentare inzwischen gelöscht. „Hier haben offenkundig unverschämte Provokateure Fakeprofile genutzt, um widerwärtige Meldungen abzusetzen“, erklärte ein Sprecher der AfD gegenüber news38.de.

Alice Weidel ist sich auch nicht zu schade, die tödliche Gleis-Attacke vom Frankfurter Hauptbahnhof zu instrumentalisieren. Auf Weidels Facebookseite heißt es: „Es ist merkwürdig, dass der kleine Junge, der von einem Afrikaner vor den ICE gestoßen wurde, noch immer namenlos ist. Man findet nichts zu ihm im Internet, nicht einmal eine Traueranzeige. Wer hier Absicht vermutet, liegt nicht ganz falsch. An anonyme Opfer erinnert sich niemand mehr. Ihnen wird das Gedenken verwehrt und damit die notwendige Aufarbeitung mit der Tat.“

Wie viele Menschen derart vergiftete Diskussionsbeiträge tolerieren oder gar gutheißen, wird sich bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September herausstellen. Übrigens ist inzwischen klar, dass der mutmaßliche Täter von Frankfurt seit Jahren in der Schweiz lebte und dort als integriert galt – genauso wie Alice Weidel, die bis 2018 in Biel wohnte.

Wenn sich dies- und jenseits des Atlantiks menschliche Abgründe auftun, dann ist es umso schöner, auch mal gute Nachrichten zu verbreiten. Der anonyme Spender, der unserer Redaktion am Montag 100.000 Euro für das Braunschweiger Hospiz übergab, ist ein Anti-Trump: Er denkt nicht an sich, sondern an andere. Er drängt sich nicht in den Mittelpunkt, sondern will anonym bleiben. Diesen Wunsch respektieren wir – auch, wenn eine ehrgeizige Jungreporterin des Privatfernsehens den Wohltäter am liebsten vor die Kamera gezerrt hätte. Märchen sind in ihrem Kern immer fantastisch und zauberhaft. Belassen wir es dabei.