Die Untat sprengt jedes Verstehen.

Menschen, sie raten, trösten, heilen nur den Schmerz, den sie nicht selber
fühlen. Trifft er sie, dann wird zur
wilden Wut derselbe Trost, der eben noch Arznei dem Gram vorschrieb.
William Shakespeare

Der Tod an Gleis 7 des Frankfurter Hauptbahnhofs erfüllt uns mit Fassungslosigkeit, mit Trauer und mit Zorn. Ein kleiner Junge, gerade acht Jahre, ist gestorben, seine Mutter gerade noch entkommen – weil ein wildfremder Mann sie vor den einfahrenden ICE stieß. Niemand muss sich schämen, wenn er in der ersten Empörung diesem Menschen ein Schicksal wünscht, das ebenso grausam ist wie der Tod des unschuldigen Kindes. Der mutmaßliche Täter ist selbst mehrfacher Vater. Was um Gottes Willen hat ihn getrieben?

Diese Untat sprengt jedes Verstehen. In einer Zeit, in der wir alle uns nolens, volens überfressen haben an der medialen Darstellung aller denkbaren Formen von Aggression und Perversion, packt uns sprachloses Entsetzen.

Polizei und Staatsanwaltschaft werden alles tun, um diesen Fall aufzuklären. Es steht völlig außer Frage, dass der Mann, sofern seine Schuld zu beweisen ist, die härteste Strafe verdient. Vorwürfe an die Bahn und ihr Personal am Bahnsteig gehen fehl. Bei fast einer halben Million Reisenden täglich, bei deutlich mehr als 1000 Zügen an Deutschlands wichtigster Zugverkehrsdrehscheibe können sie für die Tat eines Einzelnen nicht verantwortlich gemacht werden. Es wäre so, als wollte man eine Kommune zur Rechenschaft ziehen, weil jemand vom Bürgersteig vor ein fahrendes Auto gestoßen wurde. Es gibt keine Sicherheit gegen solche Täter. Und dennoch hat die Tat von Frankfurt die politische Aufmerksamkeit verdient, die ihr, von Innenminister Seehofer angefangen, diese Woche zu Teil wurde. Die Erschütterung eines ganzen Landes erfordert es, und die Pflicht zur Vorsorge gegen weitere Übergriffe dieser Art auch. Gründlich und mit allen rechtsstaatlichen Mitteln muss ermittelt werden, was das Motiv des Täters war und ob es einen Weg gegeben hätte, die Tat zu verhindern.

Die Bundespolizei berichtet inzwischen, der Mann sei bereits in der Schweiz auffällig geworden. Er habe in der vergangenen Woche seine Frau und seine Kinder eingesperrt, habe eine Nachbarin gewürgt und sei mit einem Messer auf sie losgegangen. Seither werde er polizeilich gesucht. Seit Januar sei der Mann wegen psychischer Probleme arbeitsunfähig gewesen, habe sich in psychiatrischer Behandlung befunden. Vor dem Gewaltausbruch, sagt die Schweizer Polizei, sei der Mann nicht gewalttätig gewesen.

Der Tod an Gleis 7 darf nicht den Spekulationen überlassen bleiben, die in den vergangenen Tagen ins Kraut schossen. Sofort ging es wieder los: Politiker der AfD wussten zu berichten, der Tod des kleinen Jungen sei das Resultat einer grenzenlosen Willkommenskultur. Hätten sie, schon aus Respekt vor dem jungen Leben, das gerade verloschen war, einen kurzen Moment innegehalten, wäre ihnen die entlarvende Peinlichkeit erspart geblieben. Diese Woche wurde ein neuer Höhepunkt des Missbrauchs der Leiden unschuldiger Menschen erreicht: Der mutmaßliche Täter lebte nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz, seit mehr als zehn Jahren. Er ist damit nicht mehr und nicht weniger ein Fall für das deutsche Ausländer- oder Asylrecht, als es ein durchreisender US-Bürger, Russe oder Brasilianer wäre.

Politik und Gesellschaft müssen die harte Realität der Zuwanderungsfolgen zur Kenntnis nehmen. Da lässt sich nicht alles mit reiner Menschenfreundlichkeit regeln. Aber wer wegen der dunklen Haut und des eritreischen Passes des mutmaßlichen Täters den Pauschalverdacht gegen alle Flüchtlinge propagiert, der ist nichts anderes als ein Rassist. Da wird aus dem einen Täter eine Chiffre für „die Ausländer“, „die Afrikaner“, „die Flüchtlinge“. Das ist mit den Tatsachen nicht vereinbar, trägt nichts zur Verbesserung der Lage bei, aber es vergiftet die Atmosphäre, schürt neue Aggression.

Der Missbrauch der Gefühle von tief erschütterten Menschen in Deutschland wirft grundsätzliche Fragen auf. Wenn nicht einmal mehr die Trauer um ein junges Leben ausreicht, um den Grundregeln des politischen Anstands und der Redlichkeit zur Geltung zu verhelfen, bewegen wir uns dann nicht auf abschüssigem Terrain? Und wenn solche Obszönität geeignet wäre, auch in Deutschland Wahlen zu gewinnen und Regierungen zu führen – wie weit wären wir in Deutschland noch von der Trumpisierung entfernt? Wie lange würde es dauern, bis auch bei uns Abenteurer in höchste Regierungsämter einzögen, die Politik als höhere Form der Pöbelei verstehen? Wann würde dann zum ersten Mal ein Bundeskanzler per Twitter eine Stadt als „widerliches, von Ratten und Nagetieren infiziertes Chaos“ beschimpfen, wie es Donald Trump über Baltimore tat, um einen ihm verhassten Oppositionspolitiker zu diffamieren? Wann würde man dunkelhäutige Deutsche zur „Rückkehr in ihre Heimat“ auffordern, um sie politisch mundtot zu machen?

Der Tod des kleinen Jungen ist furchtbar. Alle, die noch einen Funken Verantwortungsgefühl in sich spüren, sollten jetzt an ihn und seine Familie denken. Sie sollten Zeichen des Mitgefühls senden und für die Seele des Kindes beten. Sie sollten die Strafverfolger ihre Arbeit machen lassen. Und sonst den Mund halten.