„Wo sind diese 1,7 Millionen Menschen, die unter Demenz leiden? Im Alltag ist wenig Platz für sie. Ursula Sandvoß wollte sich damit nicht abfinden.

Im Theater des menschlichen Lebens ist es nur Gott und den Engeln erlaubt, Zuschauer zu sein. (Francis Bacon)

Wir leben in rational geprägten, von Technokratie geformten Zeiten. Immer dann, wenn wir der daraus resultierenden Gefahr nicht ins Auge blicken, holt sie uns ein. Dann wird der Mensch zur „Humanressource“ reduziert, zum Wirtschaftsfaktor ohne Herz und Seele. Nur wehrt sich Gottes Schöpfung mit großer Kraft gegen diese Verballhornung. Wir sind nun einmal nicht gleichermaßen fit und leistungsfähig, da können die Effizienz-Päpste so flammend predigen.

Wir alle tragen dieses Wissen in uns. Aber machen wir es uns bewusst? Verdrängen wir möglicherweise, dass würdiges Menschsein keine Frage des Leistungsvermögens, sondern unser Geburtsrecht ist? Vielleicht erklärt sich die bis ins Skurrile übertriebene öffentliche Aufregung über das Zittern der Bundeskanzlerin aus solcher Spannung. Angela Merkel ist der Archetyp des endlos belastbaren Menschen. Wenn gerade sie Schwäche zeigt, stellt sie die ideologische Verfremdung der Realität infrage, in der wir uns eingerichtet haben.

Die Konfrontation mit der Tatsache, dass so ein Kraftpaket „auch nur ein Mensch“ ist, kann und sollte uns zum Nachdenken führen. Wir mögen Meister der Technologie und der intellektuellen Durchdringung der Welt sein, wir können vieles erklären und fast alles bezweifeln. Aber wenn es um die wirklich wichtigen Fragen des Lebens geht, dürfen wir uns von streng rationalen Erklärungsmustern nicht fesseln lassen. Wir brauchen die Einsicht in die Bedingungslosigkeit der Menschenwürde, das Empfinden dessen, was Christen die Nächstenliebe nennen.

Die alten Sprachbilder sind auf dem Weg zu diesem Verständnis viel mehr als Buchstabe und Klang: „Ein goldenes Herz haben“, das ist eine der kraftvollsten Metaphern für eine Eigenschaft, ohne die gutes Zusammenleben schwerfällt. Mitfühlen zu können, sich für die Lage anderer Menschen zu erwärmen, für andere Menschen einzustehen – der Volksmund verortet diese Qualitäten nicht zufällig in gerade dem Organ, das wir wohl gerade deshalb so flapsig als „Pumpe“ apostrophieren, weil sein Funktion über Leben und Tod entscheidet.

Dieser Tage haben die Aktiven eines engagierten Sportvereins unserer Region gezeigt, dass sie tatsächlich ein goldenes Herz besitzen. Sie sehen, wie sehr viele in der Breitensportbewegung, nicht nur die sportliche Höchstleistung. Sie nehmen soziale Verantwortung auf einem Feld wahr, das größte Aufmerksamkeit verdient.

Der MTV Vorsfelde bietet, wie immer mehr, aber noch längst nicht genügend Vereine und Organisationen, ein sportliches Treffen für Menschen mit Demenz an. Im Mehrgenerationenhaus in der Wolfsburger Nordstadt treffen sich seit 2017 ältere Menschen, unterstützt von Angehörigen, ehrenamtlichen Helfern und von den engagierten Übungsleiterinnen Sabine Mikolajek und Petra Bercht. Die beiden haben eine Ausbildung gemacht, die sie zu guten Begleitern von Menschen macht, denen die Krankheit so vieles nimmt. Am Anfang kamen fünf, inzwischen sind es 14 Teilnehmer. Vor Kurzem feierten alle zusammen ein Fest. Die Leser unserer Zeitung hatten es mit ihren Spenden ermöglicht – zusammen mit neuen, übungsgerechten Stühlen und noch einigem dazu.

Bei der Spendenaktion, die – nah, wie wohl? – „Das Goldene Herz“ heißt, war in diesem Jahr so viel Geld zusammengekommen wie nie zuvor. Das Thema hat unsere Leserinnen und Leser bewegt. Ein guter Anlass für ein Eingeständnis: Es ist für uns Journalisten eine Freude, für Mitbürger zu arbeiten, die zum Engagement für die gute Sache bereit sind!

Viele haben zum Phänomen der Demenz starken persönlichen Bezug. In Deutschland leben nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft 1,7 Millionen Menschen mit dieser Krankheit. Alle 100 Sekunden erkrankt ein Mann oder eine Frau. Die Demenz betrifft nicht nur den Patienten selbst. Die Bundesärztekammer schreibt in einer ungewöhnlich einfühlsam formulierten Patienteninformation: „Durch eine Demenz wird alles anders. Sie verändert den kranken Menschen ebenso wie seine Mitmenschen. Denn häufig versorgen und pflegen Partnerin, Partner oder Kinder einen demenzkranken Menschen.“ Demenz schleicht sich ins Leben. Leider ist sie daraus nie wieder zu vertreiben. Das Gedächtnis wird schwach und schwächer, Menschen verlieren die Orientierung, sogar in der eigenen Wohnung, das Sprechen wird immer schwieriger. Die Kontrolle über die Gefühle kann verloren gehen.

Wo sind diese 1,7 Millionen Menschen, die unter Demenz leiden? Nur selten werden wir sie auf der Straße treffen. Im hektischen Alltag ist in unseren öffentlichen Räumen wenig Platz für diese Menschen und ihre Angehörigen. „Viele bewegen sich nur noch in ihrer eigenen Wohnung“, sagt Ursula Sandvoß, Vorsitzende des Wolfsburger Stadtsportbundes. Sie wollte sich mit der Isolierung so vieler Menschen nicht abfinden – auf ihre Anregung geht das Vorsfelder Angebot zurück.

Es ist berührend, zu sehen, wie tief ihre Botschaft den Verein durchdrungen hat. Der stellvertretende Vorsitzende Fabian-Gerwich Vandrey etwa ist ein glühender Verfechter der Idee, Demenzkranken den Zugang zur Gemeinschaft zu öffnen und sie gesundheitlich zu fördern, soweit es die bisher unheilbare Krankheit erlaubt. Über das Fest schreibt er: „Der Moment war wichtig, die Teilnehmer haben gelacht und das Hier und Jetzt genossen. Das war so wertvoll.“

Den Glückwunsch zu ihrem Angebot und zu der Teilnehmerzahl wollen sie in Vorfelde nur ungern annehmen. Denn verglichen mit der Zahl der Betroffenen sei die der Teilnehmer sehr gering. Damit haben sie recht. Der Wert solcher Initiativen liegt aber nicht zuletzt im guten Beispiel. Es sei zur Nachahmung sehr empfohlen. Der MTV verrät gerne, wie es gehen kann. Die Mailadressen lauten: vorstand@mtv-vorsfelde.de oder vandrey@mtv-vorsfelde.de