Wenn wir nicht mosern, sondern machen, entsteht Fortschritt. Die geringste denkbare Zumutung besteht ohne Zweifel darin, unser Wahlrecht zu nutzen.

Im Walde hätte nicht die Axt so leichtes Spiel,
hätt’ ihr der Wald nicht selbst geliefert ihren Stiel.
(Friedrich Rückert)

Eine Bühne in Wolfenbüttels wunderschöner Innenstadt. Die junge Frau tritt ans Mikrophon, von den vorübereilenden Wochenend-Einkäufern weitgehend ignoriert. Das ändert sich, als sie den Mund aufmacht. Denn Nike Geck (25) hat etwas zu sagen – und eine Gesangsstimme, um die sie das halbe Ensemble des „Eurovision Song Contest“ beneiden müsste. Geck hat ihre Hoffnung auf menschenfreundliches Miteinander auf unserem Kontinent in einen kraftvollen, poetischen Text gepackt. Er heißt „Stell Dir vor“ und ist eingebettet in John Lennons Hymne „Imagine“. Unsere Kollegen von „Raketenstart.tv“ haben ihre Performance aufgenommen, damit Sie sich auf unserer Internetseite einen Eindruck verschaffen können.

Ihr Text handelt vom Schrecken, dass „Solidarität und Mitgefühl so sehr von Nationalismus unterdrückt werden“. „Und dass diese Welle irgendwie die ganze Welt überschwappt, macht mich sehr ratlos.“ Davon hat sie genug: „Es war an der Zeit diese gefühlte Ohnmacht in einem Text zu verarbeiten, und meinen Teil dazu beizutragen, Denkanstöße zu geben und kritische Auseinandersetzung zu fordern.“

Am Tag, bevor in Deutschland die Wahl zum Europaparlament beginnt, kann man die junge Frau als Vorbild sehen, auch wenn man nicht ihrer Meinung ist. Denn Nike Geck mosert nicht, sie tut etwas. Sie hat einen Standpunkt entwickelt, für den sie mit großer Überzeugungskraft eintritt. Sie widersteht der Bequemlichkeit des indifferenten Politik-Bashings, wie es immer wieder zu hören ist – und das keine Antwort auf die Frage liefert, wie denn besser ginge. Natürlich ersetzt solches Engagement keine Arbeit in Parteien und Parlamenten. Aber es ist ein Fingerzeig, ähnlich den „Fridays for future“.

Bei John Lennon heißt es: „Du magst sagen, ich bin ein Träumer, aber der einzige bin ich nicht.“ Nike Geck auch nicht. Was sie sagt, steht in bester Verfassungstradition. Das kann nicht jeder von sich behaupten, auch nicht von denen, die sich am Sonntag zur Wahl stellen. Es ist aufschlussreich, Artikel 1 unserer Verfassung zu lesen und mit Wahlreden abzugleichen.

Die grundlegendsten Sätze des Grundgesetzes lauten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Dieser rigorose Anspruch mag im Zeitalter der Egozentrik von Staaten, sozialen Gruppen und Einzelmenschen romantisch-naiv wirken. Aber gerade darin besteht der Wert unserer 70-jährigen Verfassung, über die Professor Lothar Hagebölling diese Woche mit großem Sachverstand geschrieben hat. Unser Grundgesetz ist der Ausdruck des festen Willens, der Unmenschlichkeit nie wieder die Herrschaft über die Geschicke der Deutschen zu überlassen.

Wie so oft liegt es an uns, was wir daraus machen. Wenn wir nicht mosern, sondern machen, entsteht Fortschritt. Die geringste denkbare Zumutung besteht ohne Zweifel darin, unser Wahlrecht wahrzunehmen. In allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl können wir über den Kurs unseres Gemeinwesens entscheiden. Wenn wir zur Wahl gehen. Sonst nicht.

Die Wahlbeteiligung in den europäischen Nachbarländern, die schon zur Urne gerufen wurden, scheinen die Befürchtungen zu bestätigen: Nur eine Minderheit der Bürger geht hin. Das bedeutet, furchtbar knapp: Die Mehrheit verzichtet auf ihre Gestaltungsmacht – und macht radikale Minderheiten einflussreich. Denn deren Angehörige stimmen geschlossen ab.

Oft ist die Klage zu hören: „Ich weiß gar nicht, wen ich wählen soll.“ Angesichts der vielen Parteien, die zur Europawahl antreten, mag Akuthilfe sinnvoll sein: Wer sich keinen Reim auf die Parteiprogramme machen konnte, findet Hilfe bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Unter www.wahl-o-mat.de kann man sich binnen weniger, anregender Minuten durch 38 Fragen klicken und so herausfinden, welche Partei am ehesten die eigenen Auffassungen vertritt. Ein sinnvoller Helfer, wenn man als verantwortungsbewusster Mensch nach politischen Inhalten und nicht nach Vorurteilen oder nach der Performance im Veitstanz bei Anne Will entscheiden möchte.

Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen. Auch, aber nicht nur im politischen Raum. Die IHK Braunschweig hat diese Woche drei Initiativen mit ihrem Sozialtransferpreis ausgezeichnet. Spannend, welche Partner da zusammenfanden: „Weihnachten für alle e. V.“, Hochschule Ostfalia und Volksbank Brawo engagieren sich gemeinsam im Projekt „Wunscherfüller“ – dabei werden Spender und bedürftige Menschen für eine Weihnachtsgeschenke-Aktion zusammengebracht. Netzlink Informationstechnik, Lebenshilfe Braunschweig und das Braunschweiger Gymnasium Martino Katharineum haben Materialien und Medien in leichter Sprache entwickelt, um Menschen mit Handicap den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern. Das Immobilienunternehmen TAG und der Verein Super Salzgitter besuchen im Projekt „Kriminal- und Suchtprävention im Stadtquartier Salzgitter Lebenstedt“ Schulen, um vor Ort über Drogenkonsum und seine Folgen zu berichten. Jedes dieser Projekte ist ein schlagender Beweis, dass sich mit vereinten Kräften sehr viel bewegen lässt.

Auch beim „Walk4Help“ in Braunschweig wird es so sein. Die Aktion mobilisiert enorme Mittel für den Kampf gegen Kinderarmut. Und bevor noch ein Kilometer gelaufen ist, hat unser anonymer Spender ein weiteres Zeichen gesetzt: 20.000 Euro, damit es Kindern besser geht. Wie singt Nike Geck in Lennons Lied: „Du magst sagen, ich bin ein Träumer, aber der einzige bin ich nicht.“

Wolfenbüttlerin Nike-Geck: "Stell Dir vor"

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