“Der Verlust der Metropole an den Kandidaten einer Oppositionspartei wäre für ihn mehr als der Verlust einer Stadt.“

In gewisser Weise wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Gefangener seines eigenen Macht-Axioms. „Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei“, hatte Erdogan immer wieder gesagt. Der Verlust der Metropole am Bosporus an den Kandidaten einer Oppositionspartei wäre für ihn mehr als der Verlust einer Stadt.

Es wäre eine unausgesprochene Kriegserklärung an den Allmachts-anspruch des Staatschefs. Deshalb übte Erdogan so starken Druck aus, dass die Hohe Wahlkommission den Urnengang für ungültig erklärte.

Istanbul ist für Erdogan Heimat und politische Hochburg. Hier wurde er geboren, hier erwarb er sich als Bürgermeister in den 1990er-Jahren die ersten Lorbeeren. Und hier praktizierte der Ministerpräsident 2013 eine Politik der eisernen Faust. Als ein Protest von Umweltschützern gegen ein Bauprojekt im Istanbuler Gezi-Park eine landesweite Welle von Demonstrationen losgetreten hatte, antwortete Erdogan mit massiven Polizeieinsätzen.

Wer Erdogan Istanbul nimmt, attackiert seine politische DNA. Ein Bürgermeister der Opposition in seiner einstigen Hochburg: Für den Präsidenten wäre dies ein feindliches Biotop. Es könnte im ganzen Land eine liberale Lawine mit Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit ins Rollen bringen – ein Generalangriff auf die Autorität Erdogans.

Istanbul spürt nun die Rache des Sultans. Erdogan hat ein paranoides Herrschaftsverständnis. Demokratie heißt Gewaltenteilung und den durch Wahlen institutionalisierten Wechsel der Macht.

Für den Autokraten Erdogan bedeutet dies jedoch Verlust und Niederlage. Deshalb ist zu befürchten, dass er auch einen erneuten Wahlsieg des Oppositionskandidaten am 23. Juni anfechten lässt. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.