„Die Werte der freiheitlichen Gesellschaft, der wehrhaften Demokratie sind jeden Einsatz wert.“

„Das Leben eines Geizhalses ist eine beständige Ausübung der Macht im Dienst der Person.“
Honoré de Balzac

Gestatten Sie eine steile These zum Wochenende? Wir leben im Zeitalter der Inkonsequenz. Ein paar Beispiele. Wir wollen die Klima-Katastrophe eindämmen. Deshalb steigen wir, zum stolzen Preis von 80 Milliarden Euro, sieben Jahre früher aus dem Kohle-Abbau aus. Außerdem möchten wir unseren Kindern nicht noch mehr strahlenden Atommüll hinterlassen und schalten die Atomkraftwerke ab. Auch das kostet viele Milliarden. Wir wollen unsere Verantwortung für die Zukunft tragen. Aber wir möchten auch, dass sich der Mixer dreht, dass die Glotze flimmert und bald auch das Auto mit Strom fährt. Woher soll er kommen, „der Saft aus der Dose“, wie die Rockband „Morgenrot“ die elektrische Energie nannte?

Und der Müll, den wir schon erstromt haben, er muss irgendwo hin. Bis heute steht in Deutschland kein Endlager für die Hinterlassenschaft der Meiler zur Verfügung. Mit Ausnahme des Schachtes Konrad in Salzgitter, quasi mitten in einer Großstadt. Und in einem alten Bergwerk. Ohne Rückholmöglichkeit. Toller Plan, würde mein Sohn sagen. Hochrangige Vertreter der zuständigen Behörden wollen dennoch nicht einmal im Ansatz neu nachdenken. Eine erstaunlich unsensible Bundesumweltministerin Schulze brachte die leidgeprüften Konrad-Gegner mit ihrem Besuch jetzt auf ein neues Frustrationslevel. Zu groß ist in Politik und Verwaltung die Furcht, dass der für Konrad bestimmte Strahlenmüll weitere Jahrzehnte in ungeeigneten und zunehmend prekären Behältnissen vor sich hin rotten könnte.

Denn in unserem Land klappt das Aufhören, die Einstellung, die Aufgabe wesentlich besser als die Realisation einer verantwortlichen Lösung. Wann mag es ein genehmigtes Endlager für stark strahlende Abfälle geben? Wahrscheinlich wird es keiner der heute Verantwortlichen mehr erleben. Gewarnt durch die Erfahrungen in der Sackgasse Atomkraft, wollen wir weitsichtiger handeln. „Nachhaltig“, wie man sagt. Sonnenstrom, Flusskraftwerke und vor allem Windkraft sind die Mittel der Wahl. Verglichen mit dem Risiko einer Atomkatastrophe oder den möglichen Folgen der Erderwärmung gewinnt der Urenkel der guten alten Windmühle unwiderstehlichen Reiz. Eitel Freude herrscht aber auch hier nicht. Man steht vor einem der hohen Masten, hört das Rauschen der Rotorblätter, blickt in Landschaften, die Windkraftanlagen massiv verändert haben.

In den Stahlwäldern an der Nordseeküste mag niemand spazieren gehen. Wir wissen immerhin: An geeigneten Orten, in hinreichendem Abstand zu bewohnten und ökologisch besonders sensiblen Gebieten, gibt uns die Windkraft, was die Vorfahren von der Atomenergie erhofft hatten: Praktisch unbegrenzte Energie zum kleinen Preis. Diese Bedingungen sind entscheidend; selbst diese umweltschonende Form der Energiegewinnung braucht Regulierung, Steuerung, Interessenausgleich.

Der Weg des Raumordnungsprogramms in unserer Region war steinig und wurde über weite Strecken mehr stolpernd als schreitend begangen. Viel Zeit ist verloren gegangen. Aber der Plan einer Verteilung „raumbedeutsamer Windkraftanlagen“ in unserer Region mit dem Ziel, eine „Verspargelung“, wie der Regionalverband Großraum Braunschweig schreibt, zu vermeiden, ist goldrichtig. Ende gut, alles gut? Wenn endlich, endlich alles getan ist, können zusätzliche Windanlagen gebaut werden. Doch wie viel Ungemach droht in den Genehmigungsverfahren? Die Mühlen können die Turmspitzen des Kölner Doms oder der Kathedrale von Rouen an Höhe übertreffen. In einigen der ausgewiesenen Gebieten wird befürchtet, dass zu den bestehenden Reihen kleinerer Windräder nun auch noch solche Giganten treten könnten. Das muss nicht geschehen, denn die Gemeinden haben als Genehmigungsinstanz viele Möglichkeiten. So könnten Neubauten erst zum Ende der Lebenszeit der Altanlagen gestattet werden. Wie viele Prozesse wird es geben, bis gebaut werden kann?

Manche sagen: Die Zukunft der Windkraft liegt auf hoher See. Zwei US-Wissenschaftler, Anna Possner und Ken Caldeira, wagen in ihrer Studie „Geophysikalisches Potenzial für Windenergie auf dem offenen Meer“ die Prognose, dass Offshore-Anlagen den gesamten Energiebedarf der Welt befriedigen könnten. Jedenfalls gibt es dort draußen erheblich weniger streitbare Nachbarn. Tatsächlich führen schon heute große Windparks den Beweis, dass sich aus Luftdruckunterschieden viel Kraft schöpfen lässt. Häufiger wäre bei uns in Deutschland allerdings der Konjunktiv angebracht. Denn es fällt uns schwer, dem Windstrom aus dem Norden Wege in den Süden zu ebnen. Genehmigungsprozesse dauern halbe oder ganze Jahrzehnte. Rechtliche Einsprüche verzögern den Bau. Große Strommengen können deshalb nicht gewonnen oder sinnvoll genutzt werden.

Die Windstrom-Trassen sind Symbol einer Fehlentwicklung, die über Jahrzehnte hinweg zunächst unmerklich, dann aber mit unerbittlicher Macht unser Land lähmte und lähmt. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erinnerte dieser Tage in Braunschweig daran, wie das ging: „Wir haben 70 Jahre Zeit gehabt, unsere Individualrechte auszubauen. Man kann gegen alles klagen. Und jetzt wundern wir uns, dass geklagt wird.“ Er wollte damit sicher nicht den Rechtsstaat infrage stellen. Aber wir stehen vor einer einfachen Frage: Können wir es uns erlauben, das Land der Gefahr eines Stillstandes auszusetzen? Wer die scheinbare Mutlosigkeit vieler politischer Entscheidungen kritisiert, wer das ausgeprägte Absicherungsbemühen vieler Behörden seltsam findet, der sollte aus Gründen der Fairness den geringen Bewegungsspielraum bedenken, der heutzutage bleibt.

Die Vielzahl der Vorschriften und die fast unbegrenzte Möglichkeit der Klage zwingen die Genehmigungsbehörden zu einer Art Rundum-Absicherung - und dennoch treibt häufig eine Klageflut die Gerichte ins Landunter. Umso beachtlicher, wenn sich Behörden zu schnellen Entscheidungen verpflichten. 40 Tage, länger will etwa der Landkreis Wolfenbüttel nicht brauchen, um eine Gewerbeimmobilie zu genehmigen. Das ist ein Wort! Jeder will Schnelligkeit, wenn es seinen Interessen dient. Aber viele kennen kein Maß mehr, wenn es um die Verhinderung geht. Immer häufiger treffen wir sogar Menschen, die Beschlüsse demokratisch und gesetzlich legitimierter Gremien nach Gutdünken verwerfen. Jeder seine kleine Republik, jeder sein eigener Herrgott.

In Braunschweig lässt sich ein Beispiel studieren. Es geht um die Bäume an der Jasperallee, einer der schönsten Straßen der Region. Ihr Zustand und die Notwendigkeit des Ersatzes sind lange diskutiert worden, niemandem ist wohl bei dem Gedanken, scheinbar gesunde Bäume abzusägen. Aber es gibt einen gründlich beratenen Ratsbeschluss. Der renommierte Stadtplaner Walter Ackers schreibt dazu: „Stimmt es tatsächlich, dass sich eine von der Stadtgesellschaft in den Rat gewählte Fraktion aus eigenem Ermessen über Ratsbeschlüsse hinwegsetzt, diese nicht akzeptieren und weiter gegen die Erneuerung der Jasperallee kämpfen will? Und eine Initiative gleichen Ansinnens lässt verkünden, sie habe ,mit großer Wahrscheinlichkeit eine sehr breite Mehrheit der Bürger hinter’ sich?“ Ackers schließt mit dem Ausruf: „Ja sind wir denn völlig verfassungslos?“

Nein, betroffene Bürger, besorgte Umweltschützer oder politisch und in der Sache Andersdenkende müssen sich nicht alles gefallen lassen. Aber wenn wir die Paralyse vermeiden wollen, sollten wir zu einer Kultur zurückkehren, in der die Akzeptanz von Entscheidungen eine sehr viel größere Rolle spielt. Es ist heute ein Leichtes, die Gerichte zu gebrauchen wie Napoleons Kanonen. Aber so kann ein Land nicht gedeihen. Pragmatismus braucht mehr mutige Vertreter. Im globalen Wettbewerb mit hemdsärmeligen Diktaturen drohen wir den Anschluss verlieren. Eine bemerkenswerte Diskussionsveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung unter der Leitung des CDU-Landesvorsitzenden Frank Oesterhelweg zeitigte diese Woche in der Herzog-August-Bibliothek ein Bekenntnis: Die Werte der freiheitlichen Gesellschaft, der wehrhaften Demokratie sind jeden Einsatz wert. Dazu mag Verzicht gehören: Der Verzicht nämlich, um jeden Preis recht zu behalten.