„80 Jahre nach der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist und bleibt viel zu tun.“

Die ewigen Sterne kommen wieder zum Vorschein, sobald es finster genug ist.Thomas Carlyle

Am 10. Dezember 1948 traf sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris. Es war der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die Versammlung verabschiedete ohne Gegenstimmen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – den vollständigsten Kanon der Sicherung menschlicher Würde der Geschichte. Es war eine Antwort auf zwei Weltkriege, auf millionenfaches Sterben auf den Schlachtfeldern, in den Städten und in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.

Wie unerhört fortschrittlich diese Charta war, zeigt schon der erste Artikel. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es da. Zu dieser Zeit litten die Menschen in der Sowjetunion unter der Terrorherrschaft Stalins, der Missliebige im Gulag quälte (und dennoch im selben Jahr zum zweiten Mal auf der Nominierungsliste für den Friedensnobelpreis stand), während im Süden der USA, des Zentrums der „freien Welt“, Schwarze noch immer als Menschen zweiter Klasse lebten.

Dass die Erklärung dennoch das Licht der Welt erblickte, ist vor diesem Hintergrund vor allem mit ihrer Unverbindlichkeit erklärbar. Sie ist kein Gesetz, keine einklagbare, von nationalen oder internationalen Institutionen durchsetzbare Norm. Und konnte von den Mächtigen der Welt seither behandelt werden wie unsere guten Vorsätze zu Silvester. Der Traum von einer verbindlichen Norm der amerikanischen First Lady Eleanor Roosevelt, die zu den Autoren der Erklärung gehört, war nicht zuletzt unter dem Druck des Ost-West-Konfliktes zerfallen.

Und dennoch gehört es zu den größten zivilisatorischen Leistungen der Menschheit, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert und anerkannt zu haben. Nie zuvor hatte es einen globalen Konsens über Grundfragen gegeben – in einer Sprache, die so klar und scharf ist wie ein Sonnenstrahl, der den Winterhimmel teilt. Das Verbot der Sklaverei und Folter, das Recht auf einen fairen Prozess, das Recht auf Privatsphäre, das Verbot der Diskriminierung – da sind sie schwarz auf weiß festgeschrieben.

Die Realität, in der die Mehrzahl der Menschen lebt, ist eine andere. Der freiheitliche Rechtsstaat gehört 80 Jahre nach der Verkündung der Menschenrechte eher zu den Ausnahmen. Selbst innerhalb der Europäischen Union, die den Werten der Allgemeinen Erklärung in besonderer Weise verpflichtet ist und die jedenfalls zu den stabilsten Garanten der Menschenrechte gehört, stehen in einigen Mitgliedsstaaten elementare Rechte unter Druck. Man könnte sagen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sei eine Chance. Wo ihre Mahnung gehört wird, kommt die Menschheit dem friedlichen Zusammenleben näher. Wo sie nicht gehört wird, weil Ideologie, Machtinteressen und egozentrische Charakterschwäche der Staatsspitzen sie verdrängt, entsteht das Potenzial für Konflikte, deren Beendigung die Verfasser im Sinn hatten.

Die Wirkung der Menschenrechte hängt von denen ab, die für sie eintreten. Die nicht stumm zusehen, sondern kämpfen. Millionen von aktiven Mitgliedern der Menschenrechtsorganisation Amnesty International etwa sind ein Vorbild für Mächtige und für einfache Bürger: Sie gehören zu den verlässlichen Helfern der Entrechteten, weil sie Öffentlichkeit herstellen und öffentlichen Druck erzeugen.

Diese Woche hatte zum Beispiel die sehr engagierte Braunschweiger Amnesty-Gliederung zum Tag der Menschenrechte einen Abend ausgerichtet, der auf sehr umfassende Weise zeigte: Die Menschenrechte sind keine selbstverständliche Tatsache, sie brauchen und lohnen unser aller Einsatz.

Wir alle sind gut beraten, den Buchstaben und den Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in unseren Alltag mitzunehmen. Gerade wenn wir uns fragen, wo denn der Grundkonsens auch unserer eigenen, sich zentrifugal vereinzelnden Gesellschaft zu finden wäre, finden wir in den 30 Artikeln eindeutige Antworten. Es ist ein Sicherheitsgeländer, dass uns vor dem Absturz in gleichgültige Beliebigkeit schützen kann.

Zum 80. Geburtstag stellt sich hier eine besondere Aufgabe. Selbst Grundrechte werden gelegentlich zum Gegenstand der kultursensiblen Relativierung. Wenn Frauen um ihr Recht auf Selbstbestimmung gebracht, wenn jüdische Mitbürger beleidigt werden, gibt es keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung, auch nicht durch Religion oder kulturelle Herkunft der Täter. Und wenn Menschen unter unwürdigen Umständen leben, muss die Gesellschaft eines freien Landes aufstehen.

80 Jahre nach der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist und bleibt viel zu tun.