„Wer die Zentrifugalkräfte in unserem Land reduzieren will, muss persönliche Profilierung durch Gestaltungskraft ersetzen.“

Eine Politik ohne Werte ist wertlos; ohne geistige Perspektive verliert sie Realität, Richtung und Sinn.
Helmut Kohl

Wer glaubte, die christlichen Kirchen hätten ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Diskurs verloren, erlebte am Reformationstag eine Überraschung. Im evangelischen Braunschweiger Dom predigte der neue katholische Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer, über die Verantwortung jedes Christen, das Geschenk der innerlichen Freiheit zu nutzen – auch um „auf die Unfreiheiten, Ungerechtigkeiten und Schieflagen unserer Gesellschaft hinzuweisen“. Die Selbstverständlichkeit, mit der er die Gemeinsamkeit in der Verantwortung von Katholiken und Protestanten beschrieb, wirkte ermutigend, angesichts der Zentrifugalkräfte, die unsere Gesellschaft belasten und die gegenseitiges Zuhören und Aufeinanderhören immer schwieriger werden lassen. Landesbischof Christoph Meyns beschritt mit der Einladung seines Kollegen einen klugen Weg mit Potenzial. Wenn die Kirchen ihre Kräfte zur Reintegration unseres Gemeinwesens nutzen würden, wäre viel gewonnen.

Eine doppelte Wahlverliererin, Angela Merkel, hat diese Woche ihren Abschied eingeleitet. Die Beobachter sind sich in einem Punkt einig: Merkel hat die letzte Chance ergriffen, über ihre politische Zukunft selbst zu entscheiden.

Auch wenn der Teilrückzug insofern jenem kühl kalkulierenden Geist dieser Politikerin entspricht, der sie nach der Wahl in den deutschen Bundestag 1990 an die Spitze von Partei und Bundesregierung trug: Wir sollten ihren Schritt nicht gering achten. Denn Angela Merkel hat etwas getan, das selten geworden ist. Sie hat klare politische Verantwortung übernommen, hat aus dem Verlust an Bürgerzustimmung die Konsequenz gezogen.

Ungeachtet ihres Machtverlustes ist sie noch immer eine Politikerin mit großen Möglichkeiten. Falls sie die Wahlperiode als Kanzlerin zu Ende bringt, könnte sie als letzten Dienst an unserem Land einen Beitrag zur politischen Stabilisierung leisten. Neben drängenden innenpolitischen Themen geht es um die Zukunft der Europäischen Union und des transatlantischen Verhältnisses. Nur wenige europäische Politiker haben ein Gewicht, das ihnen die Chance eröffnet, weiterem Zerfall entgegenzutreten.

Der Landesvorsitzende der braunschweigischen CDU, Frank Oesterhelweg, ein scharfer Merkel-Kritiker, hat ihren Rückzug diese Woche mit Wertschätzung kommentiert. „Gerade in den Anfangsjahren hat sie der Partei aus einer schwierigen Situation geholfen. Angela Merkel hat immer wieder die Bedeutung von Europa betont und Brücken gebaut. Das hat sich auch in ihrem Wirken in der Partei widergespiegelt. Diese Leistung wird bleiben“, sagte er. Auch sein Hinweis, dass die CDU in Adenauers Sinn wieder alle Flügel erreichen müsse, ist richtig.

Ob die Kandidaten Annegret Kramp-Karrenbauer, Jens Spahn oder gar Friedrich Merz die Statur und Kraft haben, diese Aufgabe zu lösen, steht auf einem anderen Blatt. Gerade wenn die CDU ein breiteres politisches Spektrum abdecken will, braucht sie eine starke Führungspersönlichkeit mit ausgeprägten integrativen Fähigkeiten. Wie soll Friedrich Merz angesichts seines Engagements für einen Herold des Brutalo-Kapitalismus glaubwürdig das soziale Herz der Christdemokratie ansprechen? Wie soll Jens Spahn dem Eindruck begegnen, er wolle mit starker Rhetorik zur Flüchtlingspolitik lediglich an die Macht surfen, ohne hinreichend tiefes politisches Profil zu besitzen? Wie kann sich Annegret Kramp-Karrenbauer vom Verdacht befreien, sie sei die Verkörperung des Merkel’schen „Weiter so“?

Nicht alle Nachreden auf Merkel hatten braunschweigische Qualität. Dass ausgerechnet Horst Seehofer, Hauptverantwortlicher für das desaströse Erscheinungsbild der Koalition, Merkel preiswerte Respektbekundungen hinterherwarf, ruft nach starken Adjektiven. „Scheinheilig“ ist noch das höflichste. Seehofer selbst hätte längst zurücktreten müssen. Ein CSU-Politiker, der in der Vergangenheit hohe Partei- und Staatsämter bekleidete, nennt Seehofer einen „Mühlstein um den Hals der Partei“.

Nicht nur die CSU trägt schwer an ihm. Den Parteivorsitz wird Seehofer spätestens nach der Regierungsbildung in Bayern verlieren. Der Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung und damit dem Land würde es dienen, wenn er sich auch aus Berlin verabschiedete. Zu viel Kraft stand für wichtige Projekte nicht zur Verfügung, weil Seehofer nichts im Sinn hatte als die Sicherung seiner persönlichen Macht. Einer, der das Ende nicht sieht, treibt die Regierung hakenschlagend vor sich her – dieses Spektakel muss ein Ende haben.

Der Jubel aus der AfD fiel verhalten aus. Es ist kein Wunder. Denn die Abstoßungsreaktionen, die Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik auslöste, hat der Partei Rückenwind gegeben – und eklatante Defizite verdeckt. Beobachtungen vom Intrigantenstadel in der niedersächsischen AfD über die fehlende Abgrenzung zu Rechtsextremisten in Thüringen und Sachsen bis hin zur Ahnungslosigkeit in Hessen, wo die Partei Aussagen am Wahlabend zufolge den größten Teil der ersten 100 Tage mit Organisation und Personalbeschaffung zubringen will, werfen eine Frage auf: Wissen die Wähler der AfD nicht nur, wogegen sie gestimmt haben, sondern auch wofür?

Auf der Linken tut sich SPD-Chefin Andreas Nahles schwer, ihrerseits Verantwortung für den Niedergang zu übernehmen. Sie sei doch erst ganz kurz im Amt, sagen Wohlmeinende, unterschlagen aber, dass Nahles nicht erst seit ihrer Wahl zur Parteichefin zur Erosion beiträgt. Ihre schrillen Parlamentsauftritte dürften der SPD ebenso wenig geholfen haben wie ihre einseitige Gewerkschaftsorientierung als Arbeitsministerin.

Nahles hat Sigmar Gabriel, dessen haarigen Schulz-Fehler rücksichtslos ausnutzend, ins Aus geschoben. Ergo schreibt einer der besten Köpfe der SPD Gastbeiträge in Zeitungen und tritt in politischen Talkshows auf, während die farblose Katarina Barley nun als Europa-Spitzenkandidatin auf das nächste Waterloo der Sozialdemokraten zusteuert. Man muss von Fahrlässigkeit sprechen.

Wer die Zentrifugalkräfte in unserem Land reduzieren will, muss persönliche Profilierung durch Gestaltungskraft ersetzen. Und er muss zu einer Kultur des Zuhörens und Aufeinanderhörens finden, so wie es die Bischöfe unserer Region diese Woche vorlebten.