“Man fühlt sich angesichts der Kompromiskuität der Koalition wie der Zuschauer einer Reality-Soap.“

Wer weder widerstehen will noch fliehen – wie ist dem zu helfen?
Michel de Montaigne

Die Bürger erwarten, dass der Staat seinen Job macht, sagt der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. So ist das wohl. Die Straßen sollen glatt, die Schulen stark, die Verwaltungen effizient sein. Wir wollen vor Verbrechern geschützt werden. Niemand soll unsere Freiheit infrage stellen. Wir sehen es ungern, wenn die Bundeswehr ein Moor in Brand steckt und die Löschung verbaselt. Wir wollen nicht, dass sich Mandatsträger mit sich selbst beschäftigen. Und schon gar nicht sollen sie dabei unser Geld verbrauchen.

Bert Brecht schrieb in der „Dreigroschenoper“: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!“ Die Berliner Politik tut dieser Tage alles, um ihm Recht zu geben. Die gute Arbeit von Entwicklungsminister Gerd Müller, der sich hartnäckig um eine Afrikapolitik bemüht, die Menschen die Armutsflucht erspart, von Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der sich um das kränkelnde Thema der Stromtrassen kümmert, oder auch Arbeitsminister Hubertus Heil, der klug plant, wie das lebenslange Lernen erleichtert werden kann – all das ging diese Woche in der Causa Maaßen unter. Wir wurden Zeugen, wie eine Regierung die Dysfunktionalität zum System erhob.

Hat der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz versagt, indem er ohne hinreichende Erkenntnisse den Eindruck erweckte, es habe in Chemnitz keinen Nachstellungen gegen ausländisch aussehende Mitbürger gegeben? Den Lügenpresse-Verschwörungstheoretikern schien er damit recht zu geben. Ist deshalb Hans-Georg Maaßens Ablösung geboten, zumal seine inzwischen widerlegten Aussagen, wonach der Verfassungsschutz keine Aufklärung im Umfeld des Attentäters Amri betrieben habe, bereits massive Zweifel an seiner Eignung geweckt hatten? Oder ist er ein verdienter Beamter, der frühzeitig vor den Folgen unkontrollierter Zuwanderung warnte und nur gehen muss, weil er der Kanzlerin widersprach?

Würde Verantwortung ohne Seitenblick auf Meinungsumfragen wahrgenommen, wäre Maaßen nach Klärung aller Fragen entweder im Amt geblieben oder nicht. An der Spitze der Berliner Republik geht’s anders zu. Innenminister und CSU-Chef Horst Seehofer klammert sich an einen Präsidenten, dessen Positionen am rechten Rand populär sind. Denn der Bayer versucht, eine Klientel zu bedienen, die der CSU kurz vor der Landtagswahl wegbröselt wie der Streusel auf einem alt gewordenen Kuchen. Die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende hat dem marodierenden Chef der Schwesterpartei wenig entgegenzusetzen. Und SPD-Chefin Nahles steht vor einer selbst gebauten Wand: Sie hatte geglaubt, Maaßens Entlassung durchsetzen und Seehofer vorführen zu können. Nach der Pleite will sie jetzt nachverhandeln – das Bizarrometer zeigt Vollausschlag.

Was bisher herauskam, kann Nahles jedenfalls nicht ernsthaft als Kompromiss bezeichnen. Das Bundesamt bekommt eine neue Leitung – und der entweder ungeeignete oder hochverdiente Maaßen wird zum Staatssekretär befördert. Es hätte noch gefehlt, dass er seine frühere Behörde beaufsichtigt. Der SPD-Mann Gunther Adler muss ihm weichen; er wird in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Dadurch gewinnt Deutschland einen hoch bezahlten Spaziergänger und verliert den Staatssekretär im Innen-, Bau- und Heimatministerium, der sich in Baufragen auskennt. Gestern veranstaltete das Kanzleramt einen Wohnungsgipfel, weil der Mangel an bezahlbarem Wohnraum eine der größten Sorgen der Deutschen ist – es liegt nicht an Ihnen, wenn sich Ihnen der Sinn-Zusammenhang beider Ereignisse nicht mitteilt.

Man fühlt sich angesichts der Kompromiskuität der Koalition wie der Zuschauer einer Reality-Soap. Wer darf sich wundern, dass das Vertrauen der Bürger massiv leidet, wie die Umfrage unserer Funke Mediengruppe zeigt?

Die SPD ist nicht für die Irrationalität Seehofers verantwortlich. Aber weil sie ihr hilflos begegnet, geht sie schwer beschädigt aus dieser Woche. Generalsekretär Lars Klingbeil geriet, von seiner Parteichefin alleingelassen, ins Stottern, als ihn ein Radiomoderator in vorbildlicher Hartnäckigkeit fragte, ob und warum seine Partei diesem Deal zugestimmt habe. Weil konnte es längst erklären: Diese Affäre sei es nicht wert, die Koalition platzen zu lassen, Deutschland in eine Regierungskrise zu stürzen und die SPD einem unkalkulierbaren Risiko auszusetzen. Ob das reicht, um Partei und Bürger mit dem faulen Handel zu versöhnen, ist fraglich. Dennoch schön, dass einer noch so klar denken und sprechen kann.

Das stumme Dulden von SPD und CDU folgt dem Prinzip Hoffnung: Wenn die Voraussagen der Wahlforscher eintreffen, wird die CSU in Bayern baden gehen, Seehofer als Sündenbock gebraucht werden – und die Koalition ein Problem weniger haben. Der Blick auf die politische Agenda lässt hoffen, dass die Bundesregierung sich dann ausschließlich den bedeutenden Themen des Landes widmen wird. Die EU braucht Stabilisierung und Reform. Die Risiken durch die Überschuldung wichtiger Partner sind in den Griff zu nehmen. Die Digitalwüste Deutschland muss, Stichwort Datenverbindungen, in einer konzertierten Anstrengung von Bund, Ländern, Kommunen und Wirtschaft bewässert werden. Der Wohnungsmangel braucht Antworten, die sich nicht nur auf Preisbremsen reimen, sondern auch auf Vereinfachung von Planungsprozessen und der gründlichen Entrümpelung von Umweltvorschriften, die bisher nach dem Motto funktionieren: „Wünsch’ Dir was von fremder Leute Geld“. Die unerträgliche Langsamkeit der Verfahren, die jedes bedeutende Infrastrukturprojekt durchläuft, muss weichen – wie es Rechtsstaaten um uns herum vormachen. Die Bündnispolitik braucht in Zeiten des Trump neues Koordinaten. Und, und, und.

Von einem Überschuss an großkalibrigen Politikpersonal ist nicht zu berichten. Man muss deshalb fragen, ob es sich die in Existenznot geratene SPD leisten kann, einen Mann wie Sigmar Gabriel auf Parlamentshinterbank und Gastkommentarspalten zu verbannen. Gestern hat ihn die Stadt Goslar zum Ehrenbürger gemacht. Eine verdiente Würdigung. Doch so bewegend die Laudatio von Bundespräsident Steinmeier auch war: Darf sie die Nachrede auf ein politisches Leben sein? Wie viele Persönlichkeiten hat die SPD auf Bundesebene, denen die Menschen zuhören? Wenn es so weitergeht, muss sie sich einen Platz zwischen AfD und Grünen einrichten. Gesund wäre das weder für die Partei noch für das Land.