“Schulterschluss und diskreter Mut zum Dissens: Darin besteht die Kunst des Türkei-Spagats.“

Was ist auf einmal los mit der deutschen Türkei-Politik? Die neue Freundlichkeit Richtung Ankara hat zunächst wirtschaftliche Gründe. Ein Kollaps der Türkei würde auch heimische Firmen treffen. Die deutsche Industrie ist international extrem verflochten. Das heißt nicht, dass Menschenrechtsfragen unter den Teppich gekehrt werden sollen. Erdogan befindet sich innen- und außenpolitisch auf einem zweifelhaften Kurs. Er geht mit brachialer Härte gegen die Kurden vor. Der Nato-Partner kuschelt ungeniert mit Russland. All dies muss bei den Beziehungen zur Türkei mit bedacht werden. Aber es ist eine Frage des Fingerspitzengefühls, wie und auf welcher Bühne das thematisiert wird. Man kann Erdogan in Deutschland mit schrillem Ton zur Ordnung rufen. Dies wird billigen Applaus bei der eigenen Klientel bringen, in der Sache aber nichts ändern.

Klüger scheint der Ansatz von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sein. Ihre Solidaritäts-Bekundung für die krisengebeutelte Türkei wirkte in Ankara wie Balsam. Es ist ein Versuch der Annäherung. Erdogan befindet sich in einer Zwangslage, wo er an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen muss: gegen den Verlust von Vertrauen in die eigene Wirtschaft, gegen die Kurden und gegen US-Präsident Donald Trump. Vor diesem Hintergrund ist der türkische Staatschef besonders empfänglich für politische Zuwendung. Trotzdem sollte Merkel auch gegenüber einem Autokraten wie Erdogan Klartext reden und Meinungsverschiedenheiten zur Sprache bringen. Die öffentliche Tribüne wäre aber kontraproduktiv. Besser eignet sich der Austausch hinter den Kulissen.

Schulterschluss und diskreter Mut zum Dissens: Darin besteht die Kunst des Türkei-Spagats. Der Testfall steht bevor. Am 21. September besucht der türkische Finanzminister Berat Albayrak seinen deutschen Kollegen Olaf Scholz. Am 28. und 29. September kommt Erdogan. Es ist die Chance für einen deutsch-türkischen Neustart.