„Es gibt Menschen, welche die Furcht in die Flucht schlägt – Furcht vor dem Terror, der uns ereilen könnte, aber auch die Angst, dem Stress nicht gewachsen zu sein.“

„Zur See sollten weder Furchtsame noch Tollkühne gehen.“

Arleigh Burke

Armin_Maus_Portraits_517_frei

Hat sich das Leben einen grausamen, brutalen Scherz erlaubt? Der 29-jährige britische Koch Matt Campbell, Kandidat bei der Kochshow „Masterchef“, hatte zu Ehren seines Vaters, der 18 Monate zuvor plötzlich verstorben war, eine Spendenaktion begonnen. Er lief am Sonntag den London-Marathon. 2500 Pfund wollte er so für eine soziale Einrichtung sammeln, die Jugendliche und junge Erwachsene fördert. Nun ist er tot, zusammengebrochen nach etwas über 22 Meilen, im Krankenhaus gestorben.

Matt Campbell †
Matt Campbell † © Instagram

Man fühlt mit der Familie, die diesen zweiten, noch brutaleren Schlag erlitten hat und kommt nicht umhin, zu fragen: Hat sich Matt Campbell so verausgabt, weil er seinem toten Vater gerecht werden wollte, einem Mann, der ihn motiviert und inspiriert hatte wie kein anderer Mensch? Das tragische Ende eines Spendenlaufs wäre damit die Folge eines Irrtums.

Viele Briten scheinen das anders zu sehen. Bis gestern Abend hatten 18 461 Bürger über 220 000 Pfund gespendet, das sind mehr als 250 000 Euro. Einen kraftvolleren Beweis ihres Respekts vor der guten Absicht Matt Campbells hätten sie kaum antreten können.

Für Tina Beattie, eine katholische Londoner Theologie-Professorin, ist Campbell viel mehr als ein hilfsbereiter Mensch, der seine Hilfsbereitschaft mit dem Leben bezahlte. In einer Radio-Kolumne aus der Reihe „Thought for the day“ für die BBC nannte sie ihn ein Vorbild – denn er habe vorgelebt, dass Menschen ihre Furcht überwinden können, wie Jesus es getan habe.

Furcht überwinden. Das ist für immer mehr Menschen eine tägliche, schwere Aufgabe. Wenige Tage nach dem grausamen Tod von zehn Menschen in Toronto, aus dem Leben gerissen durch einen Autofahrer, der offenbar Frauen hasste und einen kalifornischen Amokläufer verehrte, ist diese Aufgabe nicht einfacher geworden. Niemand kann uns garantieren, dass nicht ein geisteskranker oder von mörderischem Sendungsbewusstsein verformter Mensch irgendwann in unserer Nähe ein Blutbad anrichtet. Niemand weiß auch, ob die Atomkriegsgefahr in Korea nun gebannt ist, ob die entsetzliche Konfrontation der Super-Männer Donald Trump und Kim Jong-un überraschend zum Frieden oder doch zum Showdown führt.

Und leider erleben wir, dass im Jahr 2018 homosexuelle und jüdische Mitbürger Angst haben müssen, sich auf der Straße kenntlich zu machen. Die Wiederkehr des Schwulenhasses und des Antisemitismus bedarf einer klaren Antwort aus der Breite der Gesellschaft. Gleichgültig, ob da ein Einheimischer glaubt, man werde rassistischen, sexistischen Unsinn „doch mal sagen dürfen“ oder ob ein Zuwanderer nicht verstanden hat, dass dies kein Land für hasserfüllte Engstirnige ist.

Gegen konkrete Angstgründe gibt es ein Mittel – es ist konsequente Gegenwehr der Bürger und der Behörden. Das schärfer gefasste niedersächsische Polizeigesetz ist ein notwendiges Zeichen.

Doch wie geht man mit der Furcht um, die im Abstrakten wächst? Offensichtlich gibt es Menschen, welche die Furcht in die Flucht schlägt – Furcht vor dem Terror, der uns ereilen könnte, aber auch die Angst, dem täglichen Stress in Schule, Beruf und oft sogar der Familie nicht gewachsen zu sein. Diese Flucht kann in viele Sackgassen führen, in Drogen und Alkohol, in pathologische Streitsucht, in schmerzlose Fernseh-Scheinwelten oder auch in Online-Spiele. Sie, die in vernünftiger Dosierung völlig harmlos sein mögen, haben ein Suchtpotenzial, das beängstigende Dimensionen annimmt. Das AWO Psychiatrie Zentrum Königslutter ermöglichte diese Woche in Braunschweig Einblicke, die eine ernste Gefahr sichtbar machten. Talentierte, qualifizierte Menschen, so war zu hören, verlieren ihre Partner, ihre sozialen Kontakte, gehen nicht mehr zur Arbeit, öffnen nicht einmal mehr ihre Post, waschen sich nicht mehr, ruinieren ihre Gesundheit durch Fettsucht und Stilllegung ihres Bewegungsapparats. Die gute Nachricht: Qualifizierte Einrichtungen berichten über gute Erfolge, solchen Menschen zurück ins richtige Leben zu helfen. Aber es dauert oft Jahre, bis ein krank gewordener Mensch erkennt, dass er diese Hilfe braucht. Wichtig sind Beratungsstellen, die es in unserer Region glücklicherweise in einiger Dichte gibt.

Das Beispiel Matt Campbells mag trotz seiner Tragik ein Gegenentwurf zu solchen Fluchten sein. Da zog sich einer unter dem Eindruck des Todes seines Vaters nicht zurück, ging nicht auf Nummer sicher. Er blieb mit aller Kraft in dieser Welt und engagierte sich für andere.

Matt Campbells Spendenseite finden Sie im Internet unter www.justgiving.com/fundraising/mattcampbell-londonmarathon. Die Radiokolumne von Prof. Tina Beattie können Sie als Podcast über www.bbc.co.uk/programmes/p0659vyw hören. Sie ist in englischer Sprache.