„Wie werden es die Delegierten finden, dass das eben noch umjubelte Europa-Kapitel von der Union geschreddert wird?“

Sigmar Gabriel brachte es im Sommer im Wahlkampf auf den Punkt. Bei der Reform der Europäischen Union stehe es 10:0 für Frankreich, sagte Gabriel, damals noch populärer Außenminister. Inzwischen ist er sein Amt los. Dieses Schicksal teilt Martin Schulz mit ihm. Doch der zurückgetretene SPD-Vorsitzende hinterließ immerhin im Koalitionsvertrag ein respektables europapolitisches Erbe. „Ein neuer Aufbruch für Europa“ lautet die Überschrift. Das Europa-Kapitel, das Schulz federführend gegen die Union durchsetzte, war eines der zentralen Versprechen, mit denen die SPD-Spitze die Parteimitglieder erfolgreich in eine neue Große Koalition lockte. Dann blieb der überforderte „Mister Europa“ Schulz auf der Strecke – und mit ihm offensichtlich der Wille der Sozialdemokraten, an der Seite von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Kanzlerin zu echten Zugeständnissen für Europa zu zwingen. Die Europa-Bekenntnisse des Bundesfinanzministers und Vizekanzlers Olaf Scholz jedenfalls sind bislang reine Lippenbekenntnisse. Scholz und Fraktionschefin Andrea Nahles erwecken nicht mehr den Eindruck, als ob sie für Europa wirklich kämpfen wollen. Mit „solidem Regieren“ an der Seite der Kanzlerin wollen sie Zeit für eine nationale Erneuerung der 20-Prozent-SPD gewinnen. Für die einst stolze Europa-Partei ist das ein Armutszeugnis.

An diesem Sonntag will Nahles auf einem Sonderparteitag in Wiesbaden als erste Frau an die SPD-Spitze gewählt werden. Wie werden es die Delegierten finden, dass das eben noch umjubelte Europa-Kapitel von der Union geschreddert wird? Nach Wiesbaden will auch Martin Schulz kommen. Er könnte die Chance nutzen, um Nahles und Scholz ein paar harsche Europa-Takte zu sagen. Grünen-Chefin Annalena Baerbock glaubt, dass es schon zu spät ist: „Mit Schulz ist offensichtlich der letzte Europäer der Groko von Bord gegangen.“