„Zwischen Durchpeitschen und Entscheidungsschwäche bleibt viel Spielraum für den gesunden Menschenverstand.“

„Male mich, wie ich bin. Wenn Du die Narben und Falten fortlässt, zahle ich Dir keinen Shilling.“
Oliver Cromwell

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Glanz und Elend eines Jubiläums lassen sich oft an der Qualität des Festredners festmachen. Ein schönes Beispiel für einen Fehlschlag war der Festakt zum Jubiläum eines renommierten Schulbuchverlages (nicht aus unserer Region). Der ließ sich von einem Philologen über jedes vernünftige Maß hinaus huldigen. Nicht nur, dass der Mann die Menschwerdung des Affen unmittelbar auf das Wirken des Jubilars zurückzuführen schien. Er tat es auch noch über längere Passagen in altgriechischer und lateinischer Zunge. Mark Twain, der manches Hausmittel zur Stärkung der Abwehr gegen Pathos-Infektionen bereithält, hat dazu folgende Bemerkung parat: „Das menschliche Gehirn ist eine großartige Sache. Es funktioniert bis zu dem Zeitpunkt, wo Du aufstehst, um eine Rede zu halten.“

Da loben wir uns den früheren IHK-Präsidenten Wolf-Michael Schmid, der am vergangenen Sonntag im Braunschweiger Dom dem Industrieclub Braunschweig zum 100-jährigen Bestehen gratulierte – indem er eben gerade nicht in Lobhudelei verfiel. Stattdessen sprach er über die Basis richtiger Entscheidungen, die Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, und über die Notwendigkeit, sich den Fakten zu stellen. Schmid wetterte gegen emotionale oder opportunistische Entscheidungen mit einem Eifer, der dem Reformator Luther gefallen hätte. Das war keine Lobrede auf den Industrieclub, der immerhin eine Gründung von Unternehmern ist, die den Wohlstand unserer Region mitbegründet haben und der heute deutlich über hundert erfolgreiche Vertreter des industriellen Mittelstandes und der Dienstleistungsbranchen vereint. Es war eine Huldigung des gesunden Menschenverstandes, der noch immer die belastbarste Grundlage für Stabilität und Wohlstand legt.

Schmids Botschaft: So, wie Donald Trumps Sprecher keine Chance haben darf, sich die Fakten zurechtzubiegen, bis sie ins Wunschbild des US-Präsidenten passen, so muss sich auch unsere Gesellschaft abgewöhnen, Tatsachen zu ignorieren, nur weil sie gerade nicht in die allgemeine Stimmungslage passen. Da bekam dann auch gleich die Stadt Braunschweig ihr Fett weg, die den Unkrautvernichter Glyphosat nicht mehr einsetzt, obwohl dessen Schädlichkeit strittig ist.

Auch wer Schmid bei diesem Beispiel nicht folgen mag, weil neben dem Krebsrisiko der Menschen auch die mögliche Bedrohung der Artenvielfalt zu bedenken ist, wird zugeben müssen: Wir leisten uns in jüngerer Zeit einige Entscheidungen, deren Sachgrundlage schwankend und deren wirtschaftliche Auswirkung verheerend war. Der nicht solide vorbereitete Ausstieg aus der Atomenergienutzung ist ebenso zu nennen wie die jahrelange Blockade wichtiger Infrastrukturinvestitionen durch verschleppte Planungen, aufbrandende Klagewellen und quälend lange Gerichts- verfahren. Der Streit um eine Anzahl Gelbbauchunken, deren Schutz beinahe einen Autobahnbau verhindert hätte, ist ein vielzitiertes Beispiel, das die Problematik unserer Entscheidungswege zeigt – unbeschadet der Tatsache, dass die „Bombina variegata“ ein sehr selten vorkommendes Tier geworden ist.

Die Abwägung muss unterschiedliche Rechtsgüter berücksichtigen. So ist das im Rechtsstaat. Es soll an dieser Stelle ausdrücklich nicht darum gehen, chinesischen Verhältnissen das Wort zu reden. Aber zwischen autoritärem Durchpeitschen und politischer Entscheidungsschwäche samt der damit einhergehenden Verlagerung viel zu vieler Fragen auf die Gerichte bliebe weiter Spielraum für die Anwendung des gesunden Menschenverstandes. In dieser Disziplin kann man von Mittelständlern einiges lernen. Denn erfolgreiche Unternehmer haben unter Wettbewerbsdruck gelernt, die Fakten zu analysieren, die relevanten Faktoren zu gewichten, Chancen gegen Risiken abzuwägen und Erfüllung notwendiger Voraussetzungen herbeizuführen. Wer so arbeitet, wird mit einiger Sicherheit zu nachhaltigen Lösungen finden.

Es wäre sehr zu wünschen, dass die Ergebnisorientierung qualifizierten unternehmerischen Denkens zum Maßstab für Politik und Verwaltung wird. Denn die Anforderungen an die Reformfähigkeit unseres Gemeinwesens steigen, weil sich die Welt in immer höherem Tempo wandelt.

Wie ganz Europa hat unsere Region viele soziale, politische und ökonomische Umwälzungen erfolgreich bestanden. Die Digitalisierung ist Auslöser einer weiteren – sie könnte so tief reichen wie die Industrialisierung, deren Chancen die Gründerväter des Industrieclubs Braunschweig so grandios zu nutzen wussten. Soll dies auch in Zukunft gelingen, müssen kluge Entscheidungen getroffen und in hoher handwerklicher Qualität umgesetzt werden.

Wenn Regierung und Gesetzgeber sich in der Frage der Luftreinhaltung in unseren Städten wegducken, obwohl die betroffenen Bürger und Unternehmen ein Recht auf Klarheit haben, entsteht kräftezehrender Stillstand. Und auch die Probleme des Regionalverbands Braunschweig sind eine Mahnung. Sollte es ihm nicht gelingen, seine Rahmenplanung für Windparks rechtssicher auf den Weg zu bringen, fiele eine Chance zur Steuerung weg. Wer das nicht will, sollte nicht über den Landesbeauftragten oder über die Journalisten schimpfen, die das Dilemma zutage gefördert haben. Er sollte sich hinsetzen und seinen Job machen.